Bernardine Evaristo

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"Mädchen, Frau etc."

Evaristos prämierter Roman

Die englische Autorin Bernardine Evaristo, die seit Mitte der 1990er Jahre Gedichte und Romane veröffentlicht, ist im deutschen Sprachraum bislang kaum wahrgenommen worden. Mit ihrem jüngsten Roman "Mädchen, Frau, etc." hat sie allerdings großes Aufsehen erregt.

Zuerst in Großbritannien, wo sie dafür 2019 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde - als erste schwarze Schriftstellerin übrigens, was in einer multikulturellen Gesellschaft wie der Britischen schon verwundert. Und jetzt auch im deutschsprachigen Raum, was nicht zuletzt der "Black Lives Matter"-Bewegung zuzuschreiben ist.

Wann ist der Höhepunkt einer Karriere erreicht? In der Londoner Theaterwelt deutet vieles darauf hin, wenn das eigene Stück am renommierten National Theatre uraufgeführt wird und schon vor seiner Premiere für die gesamte Spielzeit ausverkauft ist. Die Dramatikerin Amma Bonsu hat es "geschafft", wie sich das nennt. Doch am Premierenabend fehlt nicht die Stimme, die flüstert, dass Amma es sich so viel einfacher hätte machen können. Sie, die schwarze, lesbische Dramatikerin, hätte doch nicht dreißig Jahre lang wütend aus der Off-Szene auf das Establishment schießen müssen, …

… wenn sie nur auf Roland gehört und ein paar Shakespeares, griechische Tragödien und andere Klassiker im Multikulti-Stil inszeniert hätte, anstatt eigene Stücke über schwarze Frauen zu schreiben, die nun mal nie allzu populär sein werden, schlicht und einfach deshalb, weil die Mehrheit der Mehrheit les negrésses mehrheitlich nicht als persönlichen Bezugspunkt sieht, sondern vielmehr als Verkörperung des anderen

Schwuler Samenspender & lesbische Amazone

Roland, das ist der Samenspender und Vater von Ammas Tochter Yazz. Er ist längst Teil des Establishments. Roland ist schwarz und schwul und stets sehr darauf bedacht gewesen, seine Karriere nicht auf die Identität als schwarzer oder schwuler Intellektueller zu stützen. Amma lebte das anders - und langsam hat sich das Establishment in ihre Richtung bewegt. Seit den Achtzigern, als sie nur für die Rolle von Sklavinnen, Nannys oder Prostituierten gecastet wurde, ist Zeit vergangen.

Ihr provokantes Stück über lesbische Amazonen, die die realen westafrikanischen Kriegerinnen von Dahomey zum Vorbild haben, liegt im fiktiven London von Evaristos Roman so sehr im Trend wie 2018 die Comicverfilmung "Black Panther", die mit demselben Stoff arbeitete; oder wie die erfolgreiche Netflix-Serie "Bridgerton", in der das vorviktorianische England viel mehr dunkle Haut und Nacktszenen zeigt als je zuvor. In ähnlich zeitgeistigen Wassern aus nicht immer klaren Quellen schwimmt das Stück, das die Bourgeoisie im Buch stürmt - und auch Evaristos Buch selbst, und das ist die zweite Pointe.

Spielarten der Ab- und Ausgrenzung

Evaristos Roman heißt auf Deutsch "Mädchen, Frau etc.". An der Stelle des lapidaren „etc.“ steht im Originaltitel allerdings das deutlich stärkere "other". "Girl, Woman, other" geht da die Aufzählung. Im Englischen wird "other" auch als Verb verwendet - "to other someone" bedeutet da, dass man sie oder ihn als das Fremde betrachtet, von dem es sich abzugrenzen gilt. Von den vielen Spielarten dieser Ab- und Ausgrenzung erzählt Evaristo, indem sie die Geschichten von zwölf zumeist weiblichen Protagonistinnen im heutigen Großbritannien zu einem polyphonen Bild arrangiert. Fast alle sind schwarz oder People of Color und teilen die Erfahrung, aufgrund ihrer Hautfarbe als "anders" definiert zu werden.

Die älteste Figur ist 93 Jahre alt, die jüngste 19. Bei ihr handelt es sich um Ammas schon erwähnte Tochter Yazz - eine liberal erzogene, vorlaute Studentin.

"Feminismus ist doch voll die Herdennummer hat Yazz ihr erklärt, ganz ehrlich, heute ist es sogar schon durch, noch eine Frau zu sein … ich denke, in Zukunft sind wir irgendwann alle nicht-binär, weder männlich noch weiblich, was ja alles sowieso nur Genderperformance ist, und das heißt dann auch, Mumsy, dass deine Frauenpolitik überflüssig wird, abgesehen davon bin ich Humanistin, das spielt sich auf einer viel höheren Ebene ab als Feminismus"

Blinde Flecken und Denkmuster

Yazz ist sicher eine der Figuren im Roman, die am nächsten an den Wasserlöchern des aktuellen Identitätsdiskurses sitzen. Deshalb spricht ihr Evaristo aber nicht die Erleuchtung zu, sie beschreibt sie wie alle Frauen mit ihren blinden Flecken und Denkmustern. In einer Szene räumt ihre Freundin Courtney Yazz‘ sorgfältig aufgebautes Meinungs-Gerüst in wenigen Sätzen ab:

Courtney entgegnete, wenn man bedenke, dass Yazz die Tochter eines Professors und einer sehr bekannten Theaterregisseurin sei, sei sie ja nun nicht gerade unterprivilegiert, während sie, Courtney, aus einer richtig armen Gegend stamme, wo es ganz normal sei, mit sechzehn in der Fabrik anzufangen und mit siebzehn das erste Kind zu kriegen und es allein großzuziehen, der Hof ihres Vaters gehöre faktisch der Bank

Evaristos spannende Vita

2019 bekam die britisch-nigerianische Autorin - ex aequo mit Margaret Atwood - dafür den Booker Prize verliehen. Bernardine Evaristo war und ist damit die erste schwarze Preisträgerin in seiner fünfzigjährigen Geschichte. Zum Zeitpunkt der Preisverleihung war sie 60, hatte bereits sieben Romane veröffentlicht und eine spannende Vita hinter sich: Als viertes von acht Kindern in London geboren, gründete Evaristo die erste schwarze Theatergruppe des Landes mit und war selbst lange in der Off-Szene aktiv.

Hohepriesterin des Beruflichen Durchhaltens

Auch sie erlebte diverse Spielformen der Ausgrenzung: Die Feminismus-Bewegung der Achtziger habe sie als exklusiv empfunden, schwarze Frauen seien nicht wirklich willkommen gewesen. Genauso habe die schwarze Community sie nicht nur herzlich empfangen, da ihre Mutter weiß ist. Heute veranstaltet Evaristo Festivals und Podien, um schwarze britische Künstlerinnen zu fördern und sitzt in diversen Gremien und Lehrstühlen - sie hat es wie ihre gefeierte Protagonistin Amma "geschafft", wie man das nennt, - und wenn diese im Roman sagt, sie sei zur "Hohepriesterin des Beruflichen Durchhaltens" geworden, liest sich das als bitterer Witz aus der eigenen Biografie.

Polyphoner Geschichtenteppich

Nochmals zurück zu "Mädchen, Frau etc.": Die rund 500 Seiten sind in zwölf Unterkapitel geteilt, jedes erzählt die Geschichte einer Protagonistin. Da gibt es neben Amma und ihrer Tochter noch die Ivy-League-Absolventin Carole, die ein Trauma aus der Jugend mit sich trägt, Bummi, die an der Hand ihrer Mutter aus dem ölverschmierten Nigerdelta flüchtete oder Penelope, die versteckt im Abstellraum neben dem Putzsachen Betty Friedans Kultbuch "Der Weiblichkeitswahn" liest. Die Handlungsfäden kreuzen sich, da wird die Unterseite einer Geschichte beleuchtet, die wir bereits aus einer anderen Perspektive kennen. Das Leben der anderen, das die Figur davor nicht so sehr interessiert hat, rutscht in den Fokus. Vieles läuft im abschließenden Kapitel - dem Premierenabend - zusammen.

Bernardine Evaristo entwirft detailtreue Lebensgeschichten, neben jeder Figur stehen die Vorfahrinnen Spalier, von denen wiederum die Wege von der Karibik oder Ghana bis nach Großbritannien erzählt werden. Das bereitet beim Lesen nicht nur Freude: Das Unterfangen, die Komplexität von Identitäten abzubilden, dieses "Wie kam wer wieso woher wohin", wächst sich zu schwer überschaubaren Dimensionen aus und fühlt sich manchmal repetitiv an. Eine kleine Figurenaufstellung, wie sie die großen Russen am Ende führen, damit man die Natashas und Petjas auf den Bällen und Schlachtenbildern auseinanderhält, käme da gelegen.

Gegenseitige Ab- und Ausgrenzung hat noch nie viel gebracht

Allerdings deutet nichts an Evaristos Prosa, die die Handlung oft ohne Satzzeichen vorantreibt und mal an Verse, mal an Twitter-Nachrichten erinnert, darauf hin, dass dieser polyphone Geschichtenteppich auf Überschaubarkeit abzielt. Man sieht die Welt vor Menschen nicht, und genau so ist es wohl gewollt.

Vielleicht lässt sich das Kompliment, das man diesem Buch machen kann, analog zu Penelopes Einsicht formulieren: "Mädchen, Frau etc." hat den Punkt der Polyphonie erreicht, wo die Leserinnen erkennen, dass all die anderen Frauen, diese Others, von derselben Welt umgeben sind und gegenseitige Ab- und Ausgrenzung noch nie viel gebracht hat.

Service

Bernardine Evaristo, "Mädchen, Frau, etc.", Roman, Klett-Cotta
Originaltitel: "Girl, Woman, Other"

Bernadine Evaristo

Gestaltung

  • Antonia Löffler

Übersicht