BRIGITTE KRAMER
Hörbilder Spezial
Erkenntnis in den Südkarpaten
Warum strukturarme Regionen unsere Wertschätzung verdienen.
29. Mai 2021, 12:00
Europa ist mein Kontinent. Ich lebe seit mehr als 25 Jahren in Spanien, geboren bin ich in München. Als freie Journalistin habe ich einige Regionen meines Kontinents bereist, war auf dem Balkan, der Iberischen Halbinsel, in Sizilien, in Skandinavien … Seit ein paar Jahren interessieren mich vor allem Themen, die mit dem Leben auf dem Land verbunden sind: alles, was weit weg ist von den großen Städten, wo die Leute weniger Zeit haben und die Antworten sich eher gleichen. Im ländlichen Raum spüre ich mehr, wenn ich mit Menschen spreche, und die Umgebung inspiriert mich eher.
Hörbilder Spezial | 01 05 2021 – Projekte gegen die Landflucht
Ein Wendepunkt war der Besuch bei einer rumänischen Großfamilie in den Südkarpaten. Sie hatte mich zum improvisierten Essen eingeladen. Tiegel, Teller, Schüsseln standen auf dem Tisch. Nichts war aus Plastik. Ich habe das gemeinsame Essen genossen, alles war selbst gekocht, eingelegt, gebraten, konserviert. Ich erinnere mich an fermentiertes Gemüse, Frischkäse und Schmalznudeln.
Wie Renntiere schnaufen
Seitdem weiß ich: Strukturarme Regionen interessieren mich. Keine Autobahnen, keine Industriegebiete, keine Neubausiedlungen. Dafür Fuchs und Hase, genau, aber auch Wisent und Elch, Wolf und Biber. Diese Landstriche haben sich viele Eigenheiten bewahrt. Sie entwickeln sich auf ihre Art. Sie haben wenig Infrastruktur, viele Bewohner/innen gelten nach heutigen Standards als arm. Aber an vielem anderen sind sie sehr reich.
Deshalb bin ich ein gutes Jahr vor Beginn der Pandemie aufgebrochen, um ein großes Radiofeature über strukturarme Regionen in Europa zu machen. Soria in Zentralspanien, Brandenburg rund um Berlin und das finnische Lappland. Ein Dorf namens Savukoski wollte mich dort aufnehmen. Dazu ist es seuchenbedingt nie gekommen. Aber drei patente Finninnen haben mir geholfen, sodass wir trotzdem hören können, wie Rentiere schnaufen, und erfahren, warum Finn/innen auf dem Land eher den Sommer hassen, während die Finn/innen in der Stadt den Winter nicht leiden können.
BRIGITTE KRAMER
Die Stille zur Begleiterin
In Spanien habe ich gelernt, was es heißt, sein Dorf zu lieben, auch wenn nur noch ein paar Alte dort leben. "Wir sind elf, für ein Fußballspiel reicht es", sagte mir Antonio lachend. Er ist 60 und gehört zu den Jüngsten in Huérteles. Der Ort besteht aus einer Handvoll Häuser und einer Kneipe. In Prädikow, auf halbem Weg zwischen Berlin und der polnischen Grenze, versuchen großstadtmüde Familien, einen alten Gutshof zum Leben zu erwecken. Ein junges Paar hat mir gezeigt, wie Ehrenamt auf dem Land geht und wie man sich als Städter/in einen Platz in der Dorfgemeinschaft erarbeitet.
Überall geht es ums Überleben auf dem Land, um Jobs, um Sich-abgehängt-Fühlen, um Chancengleichheit. Das waren immer die Einstiegsfragen. Dann haben viele angefangen, von ihrem Alltag zu erzählen. "Die Stille ist meine Begleiterin", sagte mir der spanische Bauer Antonio, und Martin und Tine aus Prädikow sagten: "Hier können wir andocken, in Berlin war alles so anonym." Reija und Susanna erzählten von den acht Jahreszeiten am Polarkreis und davon, wie sie für das Recht auf einen naturnahen Lebensstil kämpfen.
BRIGITTE KRAMER
Was wir verloren haben
Strukturarme Regionen zeigen uns, was wir in den Städten verloren haben. Viele Bewohner/innen dieser Gegenden fühlen sich von den Lichtern der Stadt angezogen und ziehen weg. Ich fühle mich von der nächtlichen Dunkelheit auf dem Land angezogen. Hier leuchten sehr viele Sterne am Himmel. Hier kennen sich die Menschen, oft seit Generationen. Hier riecht die Luft nach Gras und Erde. Hier ruht das Kollektivgedächtnis Europas.