Turi Werkner

ORF/ANNA SOUCEK

Alles Unikate

Buch Nummer 896 und 961

Die neue Folge der Diagonal-Reihe "Das Buch als Kunst" ist einem Künstler gewidmet, der eigentlich nichts anderes macht als Bücher und Hefte als Kunst. Ende der 1960er Jahre hat Turi Werkner sein erstes Buch produziert. Nach weiteren drei Dutzend beschloss er, sie zu nummerieren. Aktueller Zählstand: 1.430, wobei 20 davon gerade im Entstehen sind.

Turi Werkners Wohnung

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In einer geräumigen Wohnung im Hochparterre eines Gründerzeit-Hauses in Wien-Josefstadt lebt und arbeitet Turi Werkner seit vier Jahrzehnten. Hier ist nichts renoviert oder saniert; die mit Kunstwerken bestückten Wände sind vergilbt, der alte Parkettboden knarrt, Bücherregale überall. Obwohl Werkner hier sehr viel Platz hat für die Dinge, die er sammelt, und die Dinge, die er schafft, herrscht hier keine Unordnung. Im Gegenteil: In Werkners Universum hat alles seine Ordnung, eine über Jahrzehnte gewachsene Systematik. Das wird klar, wenn man einen Abstellraum betritt. Ein Kasten reiht sich an den nächsten. Turi Werkner nimmt eine Taschenlampe mit, da die Glühbirne kaputt ist und zu hoch hängt. Tiefenspeicher Nummer 1 nennt er das vollgeräumte Zimmer. All diese Bücher, die Regal für Regal ordentlich gestapelt sind, hat Turi Werkner selbst produziert: Es sind alles Unikate.

Kunstbücher von Turi Werkner

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Er führt zu einem mit Stiften übersäten Schreibtisch und präsentiert hemdstaschengroße Hefte. Eines trägt den Titel „Dann doch“ und enthält Namen, die ihm entfallen und dann doch wieder eingefallen sind. In ein anderes Heft vermerkt er „Neue Vokabel aus der Berichterstattung“. Das letzte ist „veraktet“, das habe er gestern den Kanzler Kurz verwenden gehört.

Turi Werkner

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Analoge Informationsverarbeitung

In die thematischen Hefte notiert Werkner in Stichworten Beobachtungen und Überlegungen; oder er beklebt die Seiten mit miteinander korrelierenden Ausschnitten aus Zeitschriften. Er betreibe „gewissermaßen einen Observer-Dienst ohne Auftrag“, schreibt der Kunsthistoriker Patrick Werkner, emeritierter Professor an der Universität für Angewandte Kunst, über die Informationsverarbeitungsmaschinerie seines älteren Bruders: „Turi sammelt. Und zwar zunächst einmal Informationen im ganz allgemeinen Sinn. Dazu gehören nach Turis Modell sowohl Berichte, die er über Medien bezieht – insbesondere sind damit Printmedien und der Rundfunk (vor allem Ö1) gemeint – als auch ästhetische Informationen, also alles, was mit Wahrnehmung zu tun hat, wobei hier wiederum die visuellen und die auditiven Bereiche im Vordergrund stehen. Turi bezieht in Abonnements das Magazin ‚New Scientist‘, das monatlich erscheinende ‚The Art Newspaper‘, als Tagezeitung die ‚Neue Zürcher Zeitung‘, und die satirische britische Zeitschrift „PRIVATE EYE“. Die Verwertung all dieser Informationsquellen umfasst das klassische Exzerpieren ebenso wie das Ausschneiden von Bild- und Textpartikeln, die er für seine jeweils im Entstehen befindlichen Bücher verwendet.“

„Frühstücken, Kaffeetrinken und dann ran an die Arbeit“, sagt der 1948 in Innsbruck geborene Turi Werkner über seinen Tagesablauf als ständig schaffender Künstler. Begonnen hat er mit dem Ausschneiden und Einkleben bereits als Volksschüler. Er erinnert sich an Pflanzendiagramme aus der Zeitschrift Wunderwelt, an Autos aus der Micky Maus. Leider sei keines dieser Ur-Hefte erhalten.

Aufgeschlagenes Buch

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Windkanal im Vorzimmer

1.430 Bücher, aus denen es ein Objekt für diesen Radiobeitrag auszuwählen gilt – wie gehen wir das an? Werkner hat zwei Bücher aus einer Serie vorbereitet: Sie sind riesig, von einer Person eigentlich kaum zu heben: 102 x 70cm, aufgeschlagen gut 1,5 Quadratmeter. Der Buchbinder Stephan Ortbauer hat das gefalzte Trägermaterial eigens für Werkner angefertigt. „Ich kriege das fertige Buch. Das ist für mich wichtig, weil es eine andere Art von Arbeit ist, wenn ich ein Buch als Ganzes fertig vor mir liegen habe, oder wenn ich Sachen binden lasse. Das mag ich nicht so gern, weil mir das eine andere Herausforderung ist. Ein leeres Buch gibt einen psychischen Druck, und ohne psychischen Druck entsteht überhaupt nichts. Wenn ich nix machen will, dann mache ich nix. Und wenn nichts passiert, geht es mir nicht so, wie ich möchte, dass es mir geht“, so Turi Werkner.

Karteikarte 961

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Buchnummer 961: „Erst einen Rand, damit das Bild nicht weglaufen kann"

Den Titel des Buches mit der Laufnummer 961 schaut Werkner auf einer Karteikarte im Zettelkasten nach: „Erst einen Rand, damit das Bild nicht weglaufen kann (ausrinnen kann)“

Die großformatigen Doppelseiten sind mit Acryllack der Tiroler Firma Adler bemalt: farbige Flächen mit Rändern, die in weitere Flächen übergehen. Es gehe hier darum, was der Rand ist und wo der Rand ist, erklärt der Künstler. Die Farbschicht wird mit transparentem Fußbodenlack überzogen. Das minimiert den Abrieb beim Umblättern, und verleiht dem Farbbild außerdem eine besondere Tiefe. Um das Trocknen der abstrakten Gemälde zu beschleunigen, hat Werkner einen Windkanal in seinem Vorzimmer installiert.

Aufgeschlagenes Buch

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Buch Nummer 896: „Beule Keule“

Er führt ein weiteres Buch aus dieser mega-formatigen Serie vor: „Beule Keule“, entstanden zwischen 26. Juni und 19. August 2016 in Wien. Das verrät die Karteikarte des Buches Nummer 896. Auch die Seiten dieses Buches hat Werkner ganzseitig bemalt. Es dominiert der Farbton Chinacridonviolett, versetzt mit Schwarz und Weiß. Von Magenta über Lila und Braun – kein Quadratzentimeter der 20 tischgroßen Doppelseiten ist leer. Der Künstler findet dieses Buch das beste aus der Reihe: „Wenn Sie das rasch durchblättern, gibt es ein Kontinuum ab, scheint mir. Ohne die Brüche, die bei anderen Büchern vorkommen.“

Karteikarte

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Der Kunsthistoriker Patrick Werkner beschreibt die Systematik seines Bruders, hier TW genannt, „mittels Büchern und Heften gestaltend zu sammeln und sammelnd zu gestalten“: „Nach und nach kam es, und das ist für TW heute das Wesentliche, zur Anreicherung der Buchseite mit Text/Schrift/Kalligrafie. Die traditionelle Differenzierung zwischen Bild und Schrift wird dadurch aufgehoben. Wie die Kalligrafen arabischer Texte, wie die Miniaturisten des Mittelalters, zielt TW auf die Verbildlichung von Schrift bzw. die Verbindung von Bild und Schrift zugunsten einer Einheit.

Die Trennung von visueller und sprachlicher Wahrnehmung wird aufgehoben – Sprache kann genauso visuell wahrgenommen werden und ist nicht dem Bild untergeordnet. Bild und Text werden also ineinander verschränkt, driften dann wieder auseinander, tauchen meistens getrennt voneinander auf, eine Annäherung und neuerliche Verbindung darf aber jederzeit sein. In der Nachfolge Magrittes wird immer wieder die simple Gleichsetzung von Bild und Bildbezeichnung subversiv aufgehoben, indem beispielsweise Zeitungsauschnitte von Abbildungen kombiniert werden mit anderswo gefundenen Bildbezeichnungen. Zur Skepsis der Dadaisten gegenüber der Sprache und zum Wortwitz der Surrealisten gibt es bei TW offenbar eine starke Mentalitätsverwandtschaft.“

Aufgeschlagenes Buch

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Format und Proportion

Jetzt gerade arbeitet Turi Werkner an einem Buch mit dem Titel „Partiturenreste“. Aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder, die ihm zu schade zum Wegschmeißen sind, klebt er auf die linierten Seiten, auf denen Komponistinnen Partituren notieren. „Das ist an sich schon attraktiv für mich“, sagt Werkner über das Notenbuch, „auch weil es nicht die Standardgröße A4 hat, auch angenehme Proportionen. Jetzt bin ich bei dem gelandet und da bleibe ich auch. Sollte es einmal nicht mehr hergestellt würden, dann ist es aus. Dann kommt eine andere Serie, oder ich höre überhaupt damit auf.“

Seine in Bücher und Hefte verzeichneten Sammlungen beschreibt er als „Auffangvorrichtungen“ für aufhebenswerte Informationen aller Art: „Stellen Sie sich einen Wassertank vor, der verschiedene Löcher hat. Aus den Löchern rinnt was heraus, und Sie stellen einen Topf unter jedes Loch, um die wertvolle Flüssigkeit aufzufangen und keinen Tropfen zu verlieren. Nichts anderes passiert hier.“ Auch ein Heft mit Themen für Bücher, die es zu machen gilt, führt er. Die Ideen scheinen ihm nicht auszugehen; seine Interessensgebiete sind unerschöpflich. Turi Werkner hat viel zu tun.

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