VOLKSTHEATER/NIKOLAUS OSTERMANN
"Der Theatermacher" am Volkstheater
Kay Voges' Tiefenbohrung
Während im Burgtheater Thomas Bernhards "Jagdgesellschaft" Premiere feiert, eröffnet der neue Direktor Kay Voges am Volkstheater seine kurze Saison bis zum Sommer ebenfalls mit einem Bernhard-Stück und zeigt seine schon in Dortmund erprobte Inszenierung von "Der Theatermacher". Beide Produktionen zeigen völlig neue Bernhard-Interpretationen und brechen komplett mit den Sehgewohnheiten des Publikums, das jahrzehntelang Peymann-Inszenierungen zu sehen bekam.
25. Juni 2021, 14:33
"Housewarming" nennt Direktor Kay Voges die zehntägige Spielzeit im Volkstheater, die vorbei ist, wenn Mitte Juni Festwochen und Impulstanz ins frisch renovierte Haus einziehen. Der Begriff scheint untertrieben, angesichts des wahren Theaterbrandes, den er schon mit seiner ersten Inszenierung entfacht.
Kniefall und Aufzeigen
"Für mich ist Bernhard ein großartiger Dichter und Dramatiker. Es ist ein Kniefall vor seiner Sprache und hoffentlich auch ein Aufzeigen, was man noch alles mit Bernhard machen kann", so Voges.
Mit Bernhard kann Voges buchstäblich alles machen - und beginnt doch ganz konventionell mit gewohntem Sprechtheater. Im provinziellen Utzbach ist der Staatsschauspieler Bruscon, dargestellt von Andreas Beck, mit seiner Familie abgestiegen, um in einer leeren Fabrikhalle sein Hauptwerk "Das Rad der Geschichte" zur Aufführung zu bringen.
Im Sog der Empörungsspirale
Doch noch bevor die Frittatensuppe serviert wird, beginnt das Spiel wieder von vorne, und dann noch einmal, und noch einmal. Immer wieder kommt Bruscon nach Utzbach, immer irrer wird die Szenerie. Die Figuren wechseln, der Wirt wird zum Theatermacher, die Tochter zur Mutter, Bruscon zum vollvergipsten Sohn im Rollstuhl. Und dann wieder Rollenwechsel und wieder.
"Jede Wiederholung des ‚Theatermachers‘ ist eine Verschärfung in die Tiefe des Bernhard‘schen Kosmos - es ist eine Tiefenbohrung in den Text hinein. Die Empörungsspirale dreht sich immer weiter und das ist einerseits zum Lachen, aber über dieses Lachen kann man auch erschrecken."
35 Jahre Entstehungsgeschichte
Kay Voges treibt das Theaterspiel auf die Spitze und wirbelt dem Zuschauer 35 Jahre Inszenierungsgeschichte um die Ohren, probiert Castorf´sche Stückzertrümmerung, kitschige Musical-Version und feministischen Aktionismus, bis am Ende in einer Art Horror-Albtraum die Hitlerfiguren im Ballett-Tutu zu Verdi und Technobeat tanzen.
Kay Voges' Inszenierung ist nicht frei von Selbstironie und kritischer Selbstbefragung - was soll, was kann, was muss Theater im digitalen Zeitalter überhaupt noch sein?
Was kann Theater sein?
Seine Tiefenbohrung fördert alles zutage, was aktuell - vor allem die deutsche Theaterszene vom Gorki-Theater bis zum Düsseldorfer Schauspielhaus - erregt: fragwürdige Theaterhierarchien und Führungsstrukturen, Machtmissbrauch und Diskriminierung, die "MeToo"-Bewegung und die Empörung im Netz. Und er stößt buchstäblich jene Theatermacher und -macherinnen vom Sockel, die ihre Verhaltensweise mit der Hingabe an die Kunst rechtfertigen.
"Während der Lockdown-Phase ist diese Machtdebatte im Theater noch einmal verschärft worden und man hat das Gefühl, dieses unbedingte Sehnen Kunst zu machen und gleichzeitig dabei über Leichen zu gehen, dieses Dilemma wird von Bernhard noch einmal auf eine extrem gegenwärtige Weise durchdiskutiert."
Ein frischer Bernhard
Am Ende liegt der Theatermacher zusammengekauert und blutverschmiert unter dem Tisch und bittet um mehr Freundlichkeit. "Wenn ein Dichter es geschafft hat, 20 Jahre nach dem Tod noch so eine Aktualität auf die Bühne bringen, dann ist er wirklich bedeutend. Das werden wir nicht nur hier am Volkstheater, sondern überall in Wien sehen."
Unter anderem am Wiener Burgtheater, wo Regisseurin Lucia Bihler, Hausregisseurin der Berliner Volksbühne, ab heute ihre Version der "Jagdgesellschaft" zeigt. Zugegeben - bei beiden Inszenierungen muss man auf einiges gefasst sein, und dennoch: so frisch wie im Jahr seines 90. Geburtstages hat man Thomas Bernhard auf heimischen Bühnen noch nie gesehen.