Ein Schmetterling auf schwarzem Hintergrund.

AFP/JEWEL SAMAD

Tonspuren

Böse Geschichten von Helen Meier

1984 gewinnt eine gänzlich unbekannte 55-jährige Sonderschullehrerin aus dem Kanton Appenzell-Ausserrhoden beim Wettlesen in Klagenfurt den Ernst-Willner-Preis. Verwundertes Augenreiben zuerst, eine unnahbare Seele von Mensch ist angetreten,

Die Absage des Verlags ist höflich gehalten. Die 55-jährige Sonderschullehrerin sitzt im appenzellischen Heiden am Arbeitstisch, tief in der Innerschweiz zwischen Bergen, und hat den gelben Rückantwortumschlag geöffnet. Es kümmert sie wenig. Sie weiß, dass sie gut ist, und schiebt das Kuvert in die entsprechende Mappe. Die ist dick.

"Anderen Menschen das nie verratene Geheimnis unterschieben. Sie dienen mir als Lagerplatz meines Innenlebens.“

„Die eigenen Gefühle und Gedanken nicht zu Markte tragen! Anderen Menschen das nie verratene Geheimnis unterschieben. Sie dienen mir als Lagerplatz meines Innenlebens.“ Immer schon schreibt sie, seit ihrer Zeit am Lehrerseminar, nur lesen hat sie keiner wollen. Geschichten aus dem Erker, hinter engmaschigem Tüll, unpoliert, brüchig, im Dienste der Randständigen.

Ihre Helden: Langweiler, Überforderte, Reiche, Stinknormale, Dumme, Gefährliche, Nichtsnutze. So, wie sie am Leben vorbeidriften. Frauen, Kinder, Männer. Ihre stille Liebe an deren Seite, immer. Sie sind der Tellerrand am Ende eines edlen Mahls. Verschmähtes Fett, Knorpel des Fasans oder das holzige, blöderweise vom Koch nicht weggerüstete Ende des weißen Spargels. Und dann 1984, scheinbar aus dem Nichts, tritt sie in die Scheinwerferkegel des Klagenfurter Wettlesens.

Als Spätberufene gefeiert

Privates erfährt man spärlich: Sie wird 1929 in die Familie des Dorfschullehrers im St. Gallner Mels geboren. Nach dem Lehrerseminar Primarlehrerin, Au-pair-Aufenthalt in England, Studium der Pädagogik und Sprachen in Fribourg und Heimerzieherin in der Tibetersiedlung in Rikon im Kanton Zürich, bevor sie nach Heiden zieht.

Ihren Text titelt sie Lichtempfindlich. Erica Pedretti gewinnt den Bachmann-Preis, Jörg Fauser ist immerhin auch dabei gewesen. Helen Meier erhält den Ernst-Willner-Preis und wird lapidar und unreflektiert als Spätberufene gefeiert.

„Das Leben muss Wort werden, wenn man meint, man ist eine Schriftstellerin.“

Wir sitzen da in Bern, jung, um die 20, tief unten in Übungskellern mit den Punks und fordern freie Sicht aufs Mittelmeer, überhaupt: Macht aus dem Staat Gurkensalat! Unsere Songs hießen etwa 8x4, das passt zu dir, das passt zu dir. Viel Tränengas, Zürich brennt, und wir wollen - „subito!“ - das autonome Kulturzentrum Reitschule, und sind empört, dass „unser“ Autor Jörg Fauser vom Juror und Kritikerlümmel Ranicki moralisch des Ortes verwiesen wird.

Und ja, ich gebe es zu, wir haben Helen Meier bestenfalls zur Kenntnis genommen. Sie hätte fast unsere Oma sein können. Wir waren eingeengt, und sie schrieb über Ausgegrenzte. Wir wollten Aufmerksamkeit, sie schrieb von Vernachlässigung. Wir sind an ihr vorbeigerast, sie hatte Zeit, uns nachzugehen.

Es hätte gepasst.

„Was noch? Alles. Unsere, ihre, meine zerstörte Ewigkeit."

Im Leben von Helen Meier ändert sich indes wenig. „Das Leben muss Wort werden, wenn man meint, man ist eine Schriftstellerin.“ Sie gibt ihren Beruf auf und schreibt weiter, Seite um Seite, Geschichte um Geschichte, Buch um Buch schreibt sie sich in die erste Liga, wird mit allerhand Berühmtheiten verglichen, das Feuilleton ist überzeugt, es mit der Meisterin der Kurzprosa zu tun bekommen zu haben.

Und jetzt, fast vier Jahrzehnte später, stolpere ich im Februar dieses Jahres über ihren Tod und beginne, ihre Werke zu lesen. Übung im Torkeln entlang des Falls heißt ein Lesebuch von ihr, und ich will von ihrem Leben zwischen den Buchdeckeln erzählen.

„Was noch? Alles. Unsere, ihre, meine zerstörte Ewigkeit. Nie zerstört, muss sie erzählt sein. Ihnen, mir erzählt. Jedes Wort Erinnerung. Sonne, Duft, Geruch, Erde, Farbe, Wind, Blut, Staub. Neue Lust, alte Träne.“

Jetzt passt es.

Gestaltung: Stefan Weber