
POLYFILM
Srebrenica 1995
"Quo vadis, Aida?" im Kino
Anfang Juni wurde in Den Haag die lebenslange Haft für den 2017 wegen Völkermords, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten, ehemaligen Militärchefs der bosnischen Serben, Ratko Mladic, bestätigt. Das Massaker von Srebrenica 1995 war das größte Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
23. Juli 2021, 02:00
An einem Tag noch alles zu haben, und am nächsten alles zu verlieren, das sei ihre Erinnerung an den Krieg, sagt Jasmila Zbanic. Die Filmemacherin war 17, als der Krieg Sarajevo erreichte. Die Hauptfigur von "Quo vadis, Aida?" ist Mitte 50, und durch ihre Augen erzählt Zbanic, wie es sich anfühlt, alles zu verlieren.
Aida ist eine der rund 30.000 Geflüchteten, die in und rund um das UN-Lager Schutz suchen. Ein Einzelschicksal, in dem sich die Berichte vieler Überlebender spiegeln, und eine Perspektive, in der im Film zugleich die politische und die persönliche Dimension der Geschichte zusammenprallen.
Weg in den Genozid - mitten in Europa
Aida arbeitet als Übersetzerin für die UNO, wird Zeugin der Verhandlungen zwischen dem bosnisch-serbischen General Mladic und den zunehmend überforderten niederländischen UN-Truppen. Zugleich versucht Aida als Mutter ihre beiden Söhne und ihren Mann zu retten. Sogar jemand, der den Genozid heute noch leugnet oder relativiert, sollte Empathie für diese Frau empfinden können, so Zbanic.
Jahrelange Recherchearbeit
Um ihren Film von den - je nach politischer Ideologie - unterschiedlichen Narrativen zu befreien, hat Zbanic ihre Erzählung auf jahrelange Recherchen aufgebaut. Sie hat mit Überlebenden und Historikern zusammengearbeitet, dokumentarisches Material gesichtet und David Harland, der für den Internationalen Strafgerichtshof den abschließenden Bericht über das Massaker von Srebrenica verfasst hat, war in Drehbuchprozess und Schnitt involviert.
Recherchematerial, das Zbanic dann dramaturgisch verdichtet, in einen fiktionalen Rahmen übertragen und in eine Bildsprache übersetzt hat, die sich mit ihren warmen Farben und den präzise komponierten Bildern der österreichischen Kamerafrau Cristine A. Maier ganz klar von jedem dokumentarischem Gestus oder medialen Bildern der Kriegsberichterstattung abhebt. Keine verwackelte Handkamera, sondern ein ruhiger Blick in die Gesichter der Menschen, und auf die tausenden Geflüchteten. Und: "Quo vadis, Aida?" ist dann vor allem auch eine Geschichte über die Verwundbarkeit demokratischer Institutionen.
Fragilität demokratischer Institutionen
"Die UN und die internationale Gemeinschaft haben damals versprochen, dass dies eine sichere Zone sein würde. Mit Srebrenica haben wir den Glauben in die Institutionen, auf die unsere Zivilisation aufbaut, verloren. Wenn diese Institutionen versagen, dann gibt es nichts mehr, woran man sich in einem Krieg festhalten kann, denn dann scheint alles erlaubt zu sein."
Zbanic rekonstruiert die Chronologie der Ereignisse im Sommer 1995. Sie zeichnet nach, wie eine fatale Entscheidung die nächste nach sich zieht, wie ein Wegschauen, ein Zögern und wie institutionelle Behäbigkeit den Weg in den Genozid – mitten in Europa - ebneten. Und ganz am Ende zeigt Zbanic dann auch die offenen Wunden, die heute noch in den Alltag der Hinterbliebenen und Überlebenden eingeschrieben sind.