Ordnungssystem

AP/SETH WENIG

Leben im Weniger

"Diagonal" zum Thema Reduktion

"Das neue Glück durch Verzicht, Einfach leben: Weniger haben und glücklich sein, Vom Glück des einfachen Lebens", so lauten einige Titel von populärwissenschaftlichen Magazinen, die von Menschen berichten, für die ein gutes Leben darin besteht, sich für weniger zu entscheiden. Reduziert auf das Wesentliche kann man, wie es da im Managementidiom heißt, "befreit durchstarten!".

Verwestlichte, zum Gassenhauer verballhornte und ursprünglich östliche Religionsphilosophien, allen voran Yogaschulen, predigen die Besinnung auf das - oft nicht näher definierte - Wesentliche. Reduktion ist eine Kulturtechnik, die nur im Überfluss entstehen kann. Ein Lifestyle, für den man nichts braucht außer einem fetten Bankkonto (und Instagram, um sich Applaus für die selbst gezüchteten Tomatenpflänzchen abzuholen).

Verzicht muss man sich leisten können

Wer sein eigenes Gemüse anbauen will, braucht Ackerfläche und Zeit. Wer sich mit der Familie in ein Tiny House zurückziehen möchte, braucht Grundfläche und einen Erstwohnsitz. Wer ausmisten möchte, braucht Klumpert.

Die Japanerin Marie Kondō ist damit berühmt geworden, dass sie erklärt, wie man aufräumt und wegschmeißt. Sie hat es mit ihrer Aufräum- und Wegschmeiß-Schule bis zu einer eigenen Netflix-Sendung gebracht. Kondō verdient ihr Geld mit etwas, von dem seit Jahrzehnten gefordert wird, dass es mehr Wertschätzung erfährt: Hausfrauentätigkeiten. Heute Care-Arbeit. Und in der Spitzengastronomie gilt: je weniger auf dem Teller, desto nobler das Restaurant. Dass der Hunger seit Jahrzehnten ein verlässlicher Begleiter vieler Kinder im globalen Süden ist, nehmen wir in Kauf und nennen es "Verteilungsungerechtigkeit".

Marie Kondo

Marie Kondo

AP/SETH WENIG

Immer mehr

"Inmitten des Wohlstands", sagte Viktor E. Frankl in einer Festrede anlässlich der 125-Jahr-Feier des Österreichischen Alpenvereins anno 1988, schaffe sich "der biologisch unterforderte Mensch Situationen des Notstands; mitten in einer Überflussgesellschaft beginnt er, sozusagen Inseln der Askese aufzuschütten."

Vereinzelte Inseln der Askese werden Probleme wie Verteilungsungerechtigkeit und Klimawandel nicht lösen können. Das Prinzip des Wachstums, auf dem die globale Ökonomie beruht, führt zu einer Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, zu einer Reduktion der Biodiversität, zu klimatischer Veränderung, all das in mittlerweile (lebens)bedrohlichem Ausmaß. Die Degrowth-Bewegung, auf Deutsch als Postwachstum, Wachstumsrücknahme oder auch Entwachstum bezeichnet, fordert daher ein radikales Umdenken, um ein gutes Leben für alle zu gewährleisten.

Was ist ein gutes Leben für alle?

Zentrale Forderungen der Degrowth-Bewegung sind eine höhere Besteuerung von Flugreisen, ein Ende der Flächenversiegelung sowie eine Abwendung vom BIP als Wohlstandsindikator einer Gesellschaft. Das BIP erfasst nur monetäre Werte; unbezahlte Tätigkeiten, Care-Arbeit etwa, sind darin nicht enthalten. Die Degrowth-Bewegung steht für eine Ökonomie des Genug und damit, was neu ist, der Idee einer grünen Wirtschaft skeptisch gegenüber. Denn grüne Wirtschaft zweifelt im Kern nicht am Gebot des Wachstums, sie fordert es nur unter sogenannten nachhaltigen Bedingungen.

Reduktion wird mit Begriffen wie Wahrheit, Natürlichkeit, Echtheit in Verbindung gebracht. Die Entsagung von allem Materiellen und ein leerer, aufgeräumter Geist sind der Königsweg zu Glück und Freiheit, heißt es. Doch es gibt keinen buddhistisch angehauchten Kapitalismus, und ein Tomatenpflänzchen macht noch keine Revolution. Was ist also ein gutes Leben für alle, und was brauchen wir dafür (nicht)?