75er von Joni Mitchell

AP/RICHARD SHOTWELL

Hörbilder

Die Stimme von Joni Mitchell

"Unter allen entsetzlichen Dingen ist das entsetzlichste die Musik - wenn sie erst erlernt wird." So sah es der Dramatiker Christian Friedrich Hebbel. Einen Monat lang werden in den "Hörbildern" Musiker/innen porträtiert, die ihr Handwerk bereits bestens erlernt und es darin zur Meisterschaft gebracht haben. Joni Mitchell, die Singer-Songwriterin aus Kanada macht den Anfang - und wird mit ihrer Stimme verführen.

Keine Mühe hörbar. Was mir ein Feature über die Stimme von Joni Mitchell über Songwriting verriet.

„Es gibt im Wesentlichen keinen Unterschied zwischen Songwritern und Schriftstellern“, meinte Judith Holofernes zu mir. Ich traf die Songwriterin und ehemalige Frontfrau der Band Wir sind Helden, um mit ihr über Joni Mitchell zu reden. Anlass war der 75. Geburtstag der kanadischen Künstlerin im November 2018 - und ein Feature über sie, das ich für Deutschlandfunk Kultur vorbereitete.

Judith Holofernes

Judith Holofernes

AP/FRANK HORMANN

Die These von Judith Holofernes ging mir nicht aus dem Kopf. Sie provozierte mich. Konnte es tatsächlich sein, dass Joni Mitchells Songtexte gleichbedeutend waren mit literarischen Texten? Ich hielt Songwriter/innen immer noch für etwas halbseidene Gestalten, eher einem Massenpublikum als der literarischen Muse verpflichtet, der ich, ganz auf die Magie des autonomen Wortes setzend, doch folgte. Verstand Judith Holofernes meine Vorbehalte? Was war denn für sie das Charakteristische dieser Songtexte?

"Die Texte haben einen unglaublichen Flow, sind rhythmisch ungewöhnlich gesetzt. Doch sie gehen immer auf, und sie sind dabei auch noch ziemlich elegant.“

„Sehr mühelos“ wirkten Mitchells Texte, erwiderte Holofernes. „Es gibt Songwriter, denen man ihre Arbeit immer etwas anmerkt. Bei Joni Mitchell hat das aber stets so eine ganz großartige Leichtigkeit. Wenn man die Texte dann geschrieben sieht, wird einem erst klar, wie gefeilt und absichtsvoll die sind. Sie haben einen unglaublichen Flow, sind rhythmisch ungewöhnlich gesetzt. Doch sie gehen immer auf, und sie sind dabei auch noch ziemlich elegant.“

Es müsse also viel Mühe in diesen Texten stecken, ergänzte sie, aber diese Mühe sei absolut unsichtbar. „Genau wie in ihrer Stimme, diesem Gleiten über die Oktaven, keine Mühe hörbar ist.“ Flow, Originalität, Rhythmus, Mühelosigkeit: Kriterien, die man auf Gedichte, ja auf Literatur insgesamt genauso anwenden kann. Mir wurde immer klarer, dass - und warum! - die Songwriter-Komponierstube von Joni Mitchell tatsächlich die Werkstatt einer anspruchsvollen Schriftstellerin ist. Es blieb die Preisfrage: „Wie macht sie das?“

„Ich habe sie über Monate hinweg an einem Songtext arbeiten sehen“.

Joni Mitchell

AP/SUZANNE PLUNKETT

Joni Mitchell

Im Kanada der 1950er Jahre besuchte Joni Mitchell als Schülerin einst einen Kurs für kreatives Schreiben. Und ihr Lehrer dort, Arthur Kratzmann, gab ihr einen wichtigen Tipp, den sie fortan beherzigte - so wichtig, dass sie Kratzmann später ihr erstes Album widmete: Alle Stellen mit Klischees solle sie in ihren Texten rot einkreisen und durch etwas Originelles ersetzen. Originell, entdeckte Mitchell bald für sich, ist vor allem Selbsterlebtes.

Die aufschlussreichsten Einblicke in Joni Mitchells Schreibwerkstatt gab mir der frühere Musikproduzent Daniel Levitin, der seit 22 Jahren mit Mitchell befreundet ist. Sie lassen sich in einer Beobachtung Levitins zusammenfassen: „Ich habe sie über Monate hinweg an einem Songtext arbeiten sehen“, erzählte er mir. „Genauer gesagt arbeitete sie an einem einzigen Wort, das noch nicht richtig passte.“

Ein Anspruch, der große Literatur schaffen kann

Über Schriftstellerinnen ist Ähnliches schon manches Mal berichtet worden - sagt es jemand über eine Songwriterin, lässt es immer noch aufhorchen. Und genau darum geht es: Es ist ein Anspruch, der große Literatur schaffen kann - die man Singer-Songwriter/innen allerdings offenbar nie so recht zugetraut hat (obwohl Joni Mitchell ihre Songtexte bereits 1997 als Buch vorlegte). Vielleicht gelingt es uns nach dem Literaturnobelpreis für Bob Dylan im Jahr 2016 endlich, Songwriter und Literat/innen als gleichwertig zu sehen. Und wer genau hinhört, kann in Joni Mitchell jetzt schon jederzeit die große Erzählerin hören.

Gestaltung: Jan Decker