Netzstoff

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Thriller mit Geschichte

Das perfekte Gift und sein langer Schatten

Die Gulags der Stalinzeit, die wechselhafte Beziehung zwischen Deutschland und der Sowjetunion, oder die Ereignisse rund um ihre Auflösung 1991: Die Romane des russischen Schriftstellers Sergej Lebedew drehen sich um die neuralgischen Punkte in der russischen Geschichte. Das gilt auch für sein neues Buch "Das perfekte Gift", in dem es um den Einsatz chemischer Kampfstoffe durch den russischen Geheimdienst geht.

Zu Sowjetzeiten war Professor Kalitin ein regimetreuer Chemiker, der für sein Land ein hoch effizientes Nervengift entwickelte. Dann zerbrach die Sowjetunion und Kalitin setzte sich in den Westen ab. Dort lebt er unter falscher Identität, doch der russische Geheimdienst ist ihm auf der Spur.

"Ich schreibe nicht über Geheimagenten, sondern über Killer."

Zwei Killer sind angesetzt, den alten Professor mit seinem eigenen Nervengift zu eliminieren. Hört sich nach einem Agententhriller Marke John Le Carré an. Nein, sagt Sergej Lebedew: „Ich schreibe nicht über Geheimagenten, sondern über Killer. Das ist ein großer Unterschied, denn obwohl der Kalte Krieg seine Schrecken besaß, wird er bei Le Carré doch auch romantisiert. Meine Figuren sollten jedoch nichts Romantisches haben, weil es keinerlei Grund gibt, sie auch nur eine Spur attraktiv zu gestalten.“

Vater des Giftkriegs

Wie immer bei seinen Romanen hat Lebedew die historischen Hintergründe genauestens recherchiert. Für seinen Professor Kalitin bedient er sich zweier Figuren aus der Geschichte. „Zum einen basiert er auf Fritz Haber, dem deutschen Chemiker“, so Sergej Lebedew. „Der wurde für die Entwicklung neuer Düngemittel gefeiert, weil sie den Menschen Wohlstand brachten. Danach wurde er jedoch zum ‚Vater des Gaskriegs‘, weil im Ersten Weltkrieg unter seiner Leitung erstmals Giftgas als Massenvernichtungswaffe eingesetzt wurde.“

Ein russischer Whistleblower

Neben Fritz Haber war der zweite Bezugspunkt für Professor Kalitin der russische Wissenschaftler Wil Mirsajanow. Der war im Kalten Krieg an der Entwicklung des auch beim Nawalny-Attentat eingesetzten Nervengifts Nowitschok beteiligt gewesen und enttarnte 1992 das geheime sowjetische Chemiewaffenprogramm.

„Er war“, so erzählt Sergej Lebedew, „der erste russische Whistleblower und schrieb ein Buch, in dem er die Hintergründe der russischen Kampfstoffentwicklung enthüllte. Das gab mir wertvolle Einblicke in die ansonsten hermetische Welt der Geheimlabore.“

Buchumschlag

S. FISCHER

Geheime Labore

Lebedews Roman „Das perfekte Gift“ erschien im Original 2019. Auslöser war der Anschlag auf den übergelaufenen russischen Spion Sergej Skripal im März 2018 im englischen Salisbury. Damals las Lebedew, dass das verwendete Nervengift Nowitschok in einer hermetisch abgeriegelten Sonderzone entwickelt worden war. „Kein gewöhnlicher Sowjetbürger und auch kein Wissenschaftler ohne Sondererlaubnis durfte diese Städte betreten“, erzählt Sergej Lebedew.

Toxische Beziehung

Gute Wissenschaftler forschten dort für die schlechte Sache. Und nicht zuletzt dieses dunkle Verhältnis zwischen genialen Forschern und totalitärer Staatsmacht war es, das Lebedew beim Schreiben interessiert hat. „Das vom russischen Geheimdienst verwendete Nervengift Nowitschok wurde in einer geheimen Militärstadt namens Schichany entwickelt“, so Sergej Lebedew. „Dort gab es seit den späten 1920er-Jahren eine geheime Zusammenarbeit zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion. Weil Deutschland durch den Vertrag von Versailles die Entwicklung chemischer Waffen verboten war und errichteten sie gemeinsam mit den Sowjets dieses geheime Forschungslabor an der Wolga. Dieses Nervengift Nowitschok kommt also nicht aus dem Nirgendwo, sondern hat eine lange Geschichte.“

Historischer Thriller

In „Das perfekte Gift“ wechselt Sergej Lebedew mit jedem Kapitel die Perspektive, springt zwischen dem Killer und seinem gar nicht unschuldigen Opfer Professor Kalitin hin und her. Gleichzeitig wechselt er aber auch das Tempo. Gibt Gas, um die Thrillerhandlung voranzutreiben und bremst, um in Rückblicken größere Zusammenhänge sichtbar zu machen. Und das macht er ziemlich gekonnt.

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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