Frau mit langen Haaren

PETER ROSS

Roman von J. Courtney Sullivan

"Fremde Freundin"

In den USA ist J. Courtney Sullivan eine Bestsellerautorin, im deutschsprachigen Raum allerdings noch wenig bekannt. Das könnte ihr neuer Roman "Fremde Freundin" ändern, der jetzt in der Übersetzung von Andrea O'Brien und Jan Schönherr erschienen ist.

Statt ihrer üblichen, fast journalistischen Recherchen kramte Sullivan dafür in der eigenen Biografie und erzählt eine Geschichte von Freundschaft und Klassenunterschieden und der unangenehmen Doppelrolle als Nanny und Intimfreundin.

Die renommierte 38-jährige Sachbuchautorin Elisabeth entstammt einer ebenso wohlhabenden wie zerrütteten Familie. Ihre Babysitterin, die Kunststudentin Sam, schafft es nur dank eines Stipendiums, als erste ihrer lebhaften Großfamilie aufs College zu gehen. Und obwohl sie finanziell, altersmäßig und ideologisch Welten auseinanderliegen, werden die Fremden Freundinnen - zumindest für eine kurze, turbulente Phase ihres Lebens.

Weil Elisabeth wieder schreiben möchte, überantwortet sie ihr sechs Monate altes Baby Gil der klugen und aufgeschlossenen Studentin Sam. Ein Volltreffer für beide - zumindest auf den ersten Blick.

Frauenhände halten Weinglas (Buchcover)

Zsolnay

"Fremde Freundin" sei ihr bisher persönlichstes Buch, weil auch ein wenig ihre eigene Geschichte, sagt J. Courtney Sullivan: "Als Studentin hütete ich dreimal wöchentlich das Kind einer Frau, die gerade von New York aufs Land gezogen war, wo sie niemanden kannte. An jedem anderen Punkt im Leben hätte sie nicht so eine enge Freundschaft zu einer 20-Jährigen aufgebaut. Dazu kommt die unangenehme Machtdynamik, die Sam im Gegensatz zu Elisabeth völlig bewusst ist. Sie weiß: 'Wir sind keine Freundinnen, sie bezahlt mich! Und ich muss aufpassen, was ich in ihrer Gegenwart tue oder sage.'"

Intrigantenstadl mit spannenden Nebenfiguren

Sullivan erzählt streng chronologisch, abwechselnd aus der Innensicht der beiden Frauen, und wie die beiden die Lebensweise der jeweils anderen in Frage stellen, ist erfrischend und komisch. Dass die Geschichte nicht gut ausgeht, liegt auf der Hand, aber darum geht es gar nicht. Vielmehr stehen die vielen Intrigen, Geheimnisse und Grenzüberschreitungen im Zentrum, die ein solches Ungleichgewicht der Arbeitsfreundschaft mit sich bringt. Immerhin handelt die Geschichte in einer Villensiedlung à la "Desperate Housewives" und fast alle Nachbarinnen gebärden sich auch so.

Seine Komplexität erhält der Roman erst durch die zahlreichen Nebenfiguren: Zum Beispiel die Lateinamerikanerinnen, die für einen Hungerlohn in der Mensa arbeiten und trotzdem monatlich Geld nach Hause schicken. Oder Elisabeths Schwiegervater George, dessen Taxiunternehmen durch Uber in Konkurs ging, und der seither als Aktivist gegen Klimawandel, Großkonzerne und Neoliberalismus kämpft.

Weltrettung vs. Onlineshopping

"George ist gewissermaßen das moralische Herz des Buches", sagt J. Courtney Sullivan. "Er sorgt sich wirklich um das Klima und die Gesellschaft, während sich Elisabeth und Sam zwar als gute Menschen betrachten, durch ihren Lebensstil aber doch zum Übel beitragen, wie wir alle. Etwa mit Bekenntnissen wie: ‚Wir bestellen nicht mehr bei Amazon, wenn wir mal viel Zeit und kein Baby mehr haben.‘ Vor allem als Mutter von zwei Kleinkindern bereiten mir der Klimawandel und die soziale Ungerechtigkeit große Angst und ich fühle mich oft machtlos. Aber im engsten Umfeld kann jeder auf seine Art etwas bewirken."

Vor zwei Jahren schloss sich J. Courtney Sullivan, aus Ärger über das Ohnmachtsgefühl, der Organisation "Immigrant Families Together" an und half mit, Migrantinnen mit ihren Kindern zusammenzubringen. Ihr Sohn war damals ein Jahr alt, Sullivan im sechsten Monat schwanger.

"Damals begann Trump gerade, Mütter und Kinder an der Grenze zu trennen. Vielen, vor allem jungen Müttern, erschien diese Politik unerträglich und so sammelten wir in kurzer Zeit fast drei Millionen. Wir bezahlten Kautionen, holten Migrantinnen aus dem Gefängnis, verschafften ihnen Anwälte und organisierten freiwillige Fahrdienste quer durchs Land, um sie mit ihren Kindern zusammenzubringen. Das alles hat Eingang in mein Buch gefunden, wenn auch nicht direkt.

Immer eine Frage der Perspektive

Solche Erfahrungen und Erlebnisse machen schlussendlich den Facettenreichtum des Buches aus, ebenso wie der Umstand, dass Sullivan beide Blickwinkel - den der armen Studentin und jenen der besorgten, wohlhabenden Jungmutter - bestens kennt und beide herrlich unbarmherzig in Dialog setzt.

So entsteht auf mehr als 500 Seiten aus einer fragwürdigen Frauenfreundschaft heraus eine umfangreiche, unterhaltsame und zugleich aufrüttelnde Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Gesellschaft. Da verzeiht man J. Courtney Sullivan gern die leichten Anlaufschwierigkeiten, bevor die Geschichte nach über 100 Seiten endlich, dafür aber unaufhaltsam in Fahrt kommt.

Service

J. Courtney Sullivan, "Fremde Freundin", Roman, Übersetzung von Andrea O'Brien und Jan Schönherr, Zsolnay. Originaltitel: "Friends and Strangers"
J. Courtney Sullivan

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