Zwei männliche Hirsche beim kämpfen.

AFP/KENZO TRIBOUILLARD

Radiokolleg

Streitkultur

Zornesröte im Gesicht, zitternde Hände, heftiger Pulsschlag. Aufgeregt reagiert der Körper bei Zwistigkeiten. Es ist weitaus anstrengender, sich einer Auseinandersetzung zu stellen, als vermeintlich in Ruhe gelassen zu werden. Im trügerischen Frieden lauert aber die Gefahr des Unter-den-Teppich-Kehrens, des Verdrängens.

Den Kopf in den Sand zu stecken, dem ganzen Disput den Rücken zu kehren ist also auch keine Lösung, schon gar nicht auf Dauer. Weder persönlich noch gesellschaftlich. Schon seit einigen Jahren fordern viele daher einen ordentlichen Streit. Die Betonung liegt auf ordentlich. Denn sich brutal die Köpfe einzuschlagen und Körper, Herz und Seele zu malträtieren, wäre ein Rückschritt zu Duellen und Gladiatorenkämpfen.

Streiten wir das aus, bieten wir dem Disput, dem Konflikt, der Meinungsverschiedenheit unsere Stirn! Doch was ist Streit wirklich? Wann reift er zur Kultur, und wann eskaliert eine Meinungsverschiedenheit?

Zivilisiert Streiten

Im Streit steckt ganz schön viel Gefühl: Wut, Ohnmacht, Enttäuschung, aber auch Kraft, Leidenschaft und Empathie. Das erhöht das Risiko von Verletzungen. Beziehungen krachen, Identitäten bekommen Risse, am Ende herrscht Funkstille. Das muss nicht sein. Eine Welt ohne Konflikte also? Aus Angst vor dem Streit gehen wir ihm aus dem Weg. Doch damit verlieren wir eine der wichtigsten Kulturtechniken in unserem Zusammenleben.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich im Umgang und in der Beurteilung von Konfrontationen viel getan. Da ist vom zivilisierten Streiten die Rede, von der Kunst zu streiten und vom konstruktiven Streiten. Denn Streiten will gelernt sein. Was Menschen persönlich im privaten, beruflichen oder öffentlichen Leben passiert, hat seine Auswirkungen auf das gesamte Zusammenleben.

Konfliktpotentiale

Schon beim Wohnen geht’s ans Eingemachte. Erst recht in der Pandemie, als alle zu Hause bleiben mussten. Essen, lernen, schlafen, putzen, arbeiten –alles an einem Ort. Und dann noch die Nachbarn mit ihren Ritualen... Ein Fall für die Wiener Wohnpartner.

In der Arbeit verkümmerte währenddessen der Plausch auf dem Gang zu einem virtuellen Verhältnis. Und man wurde plötzlich vor vollendete Tatsachen gestellt, anstatt die Dinge auszureden, sprich auszuhandeln. Ein weites Feld für Konsensberatung und Arbeitsrecht. Da heißt es aufpassen, nicht klein beigeben und hellhörig bleiben. Debattieren zu lernen ist eine Möglichkeit. Bei „Misch dich ein“ lud der Debattierclub gemeinsam mit der entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisation Südwind zu kontroversiellen Gesprächen zur Klimakrise. Die jungen Menschen bezogen Position, hörten der jeweils anderen Partei zu und konterten mit eigenen Ansichten. Ein wichtiger Prozess in einer Demokratie.

Streiten ist Verhandlungssache, besonders bei internationalen Konferenzen. Respekt, Augenhöhe und klarer Standpunkt sind die wichtigen Ingredienzien für eine Zukunft, die aktiv gestaltet werden will.

Zuhören, Respekt und Achtsamkeit

Streiten heißt auch Position beziehen, Haltung einnehmen und mit anderen Personen Dinge aushandeln. Das erfordert Zivilcourage, Mut und Konfliktfähigkeit. Die Zugänge zu Konfliktlösungen sind kulturell mannigfaltig, einer davon ist der Talanoa-Dialog. Zivilisiert streiten heißt eines der Bücher zum Thema. Die Autorin Marie-Luisa Frick schreibt dazu: „Die Austragung von politischen Meinungsverschiedenheiten gehört wesentlich zum demokratischen Prinzip. Erst, wenn wir uns bewusst machen auf welchem Weg Kompromisse erzielt werden, werden wir begreifen, warum eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, gar keine, und eine Demokratie, in der nicht zivilisiert gestritten wird, zutiefst gefährdet ist.“

Was im gesellschaftlichen Zusammenleben gilt, beginnt in der kleinen Zelle: in der Verständigung miteinander. Durch Zuhören, Respekt und Achtsamkeit. Also keine Gesprächsverweigerung, keine Beleidigung und Beschämung oder Bloßstellung von Personen gegenüber Dritten. Dann kehrt in den Streit womöglich wirklich Kultur ein.

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