Richard von Weizsäcker, 1984

Weizsäcker, 1984 - APA/DPA/EGON STEINER

Roman von Fridolin Schley

Die Weizsäckers und die NS-Zeit

In den 1980er Jahren leitete der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker einen Paradigmenwechsel in der Haltung Deutschlands zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit ein. Vierzig Jahre davor verteidigte er jedoch seinen Vater Ernst von Weizsäcker bei den Nürnberger Prozessen. Was sich damals innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals zwischen Vater und Sohn abspielte, das zeichnet Fridolin Schley in seinem Roman "Die Verteidigung" nach.

Kurz die Fakten: Ernst von Weizsäcker trat 1938 der NSDAP bei, wurde noch im selben Jahr Mitglied der SS und bekleidete danach das Amt des Staatssekretärs unter dem Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop.

Der aufgeladene Gerichtssaal

Als Mitverantwortlichem für die Deportation französischer Juden nach Auschwitz wurde ihm 1947 der Prozess gemacht. Hilfsverteidiger war sein eigener Sohn, der damals 27-jährige Richard von Weizsäcker.

"Mich hat vor allem diese besondere historische Konstellation interessiert", so Fridolin Schley, "dass dort, in diesem Nukleus des Gerichtssaals so viel aufeinanderstieß: Das alte Deutschland und das neue Deutschland, das sich gerade erst demokratisch zu entwickeln begann, und das ganze auch noch verdichtet in einer Vater-Sohn-Dramaturgie."

Richard von Weizsäcker zusammen mit seinem Vater Ernst von Weizsäcker in Nürnberg, zirka 1947-1949.

Richard von Weizsäcker zusammen mit seinem Vater Ernst von Weizsäcker in Nürnberg, zirka 1947-1949.

GEMEINFREI

Sich in die Vergangenheit verbeißen

Für seinen Roman hat Schley intensiv recherchiert, Quellen gab es mehr als genug, neben den Verhandlungsprotokollen standen ihm auch Briefe, Kalendereinträge und die von Ernst von Weizsäcker in der Haft beendete Autobiografie zur Verfügung. Für die Literarisierung besonders wichtig wurde aber das nur spärlich vorhandene audiovisuelle Material.

"Ich kam mir irgendwann vor, wie ein Vampir, der alles aufsaugt, was er kriegen kann", sagt Schley. "Ich habe tatsächlich sehr viel mit Bildmaterial gearbeitet, habe mir Ton- und Filmaufnahmen angehört und angesehen, von denen nur wenige existieren, die habe ich aber wieder und wieder wie in Endlosschleife abgespielt."

Waberndes Tasten in Möglichkeitsräumen

Es sind Geräusche, Gerüche, die Oberfläche von Gegenständen, über die Fridolin Schley in die Vergangenheit einsteigt. Die Orte gewinnen dadurch Gegenwärtigkeit und Atmosphäre, sind nicht mehr die sterilen Räume, in denen die bekannte Geschichtsschreibung abgespult wird, sondern lebendige Schauplätze, die für alle Möglichkeiten offenstehen.

In ihnen tastet Schley die Vergangenheit nach neuen Erkenntnissen ab, nähert sich vorsichtig mit einem "Vielleicht" oder einem "Möglich, dass". "Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich könnte die Vergangenheit wiederaufleben lassen", so Schley, "zugleich muss sich die Literatur diesem Problem stellen, also zu sagen, können wir eh nicht mehr wissen, ist auch nicht gut. Und sich zwischen diesen beiden Polen wabernd zu bewegen und dabei die Skepsis auch zu zeigen, schien mir der beste Weg zu sein."

Buchumschlag

HANSER VERLAG

Essay und Erzählung

Essayistische Passagen mit kursiv gesetzten Originalzitaten wechseln da mit den Stellen ab, in denen Schley atmosphärisch ins Geschehen eintaucht. Was Gänsehaut erzeugt, sind die Strategien der Verteidigung, die von der Neuen Rechten fast nahtlos übernommen wurden.

"Diese merkwürdig krude Vermischung aus Sentimentalität und Technokratie, diese Vertauschung von Opfer- und Täter-Rollen, dazu eine Delegitimierung von gesetzlichen Instanzen, also es gibt schon Muster, die sich durchziehen", sagt Fridolin Schley.

Denkprozesse

Wie Schley sich in der Vergangenheit vorantastet, wie er die Räume mit Leben füllt, und sich dann in dem Denken der Weizsäckers und der damaligen Zeit zurechtzufinden versucht, das ist hochspannend. Und dass er für den Wechsel von essayistischen und erzählerischen Passagen den richtigen Rhythmus findet, macht seinen Roman "Die Verteidigung" auch sprachlich zu einem Genuss.

Service

Fridolin Schley, "Die Verteidigung", Roman, Hanser

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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