Historisches Foto eines Behandlungssaals mit Eisernen Lungen

ASSOCIATED PRESS

Hörspiel-Neuproduktion

Das Polio Jahr

Über das neue Hörspiel von David Zane Mairowitz

Der letzte Fall von Poliomyelitis, kurz Polio, die Kinderlähmung, trat in Österreich im Jahr 1980 auf. Diese hochansteckende Viruserkrankung zeitigt unterschiedlich starke Symptome, von harmlosen Fieberschüben bis zur Lähmung der Extremitäten, der Augenlider, der Brustkorbs, der Atemmuskulatur. Die Sterblichkeit liegt bei zwei bis zwanzig Prozent, in Österreich lag sie in der Phase der stärksten weltweiten Ausbreitung, im Jahr 1947, bei acht Prozent. Wenn die Krankheit nicht den Tod zur Folge hat, können Jahrzehnte nach dem Ausbruch Lähmungserscheinungen auftreten, als Post-Polio-Syndrom. Seit Ende des 19. Jahrhunderts verhielt sich Polio epidemisch. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde ein schwacher Tot-Impfstoff erfunden, später ein Lebend-Impfstoff, damit konnte die Ausbreitung weitgehend unterbunden werden.

Der Schriftsteller und Hörspielregisseur David Zane Mairowitz wurde 1943 in New York geboren; im "Polio Jahr" 1952 war er neun. Sein jüngstes Hörspiel ist ein "Seuchenmärchen" geworden, mit grellen akustischen Bildern und einer Figur namens "Lungenjunge", einem Erkrankten in der "eisernen Lunge", mit dem sich der neunjährige Protagonist anfreundet. Dies führt in Zeiten von Epidemie und Quarantäne zu realen Verwerfungen und fiktional in eine Art Comic. Wir bringen "Das Polio Jahr" im Ö1 Hörspiel.

Philip Scheiner: Heute wie damals, im Polio-Jahr 1952, fehlt vielen Menschen, auch den Kindern, die Resonanz mit anderen, vor allem wenn Quarantäne verordnet wird. Ohne Gegenüber, das uns ernstnimmt und das Erleben mit uns reflektiert, verkümmern viele Aspekte des Zwischenmenschlichen. Einsamkeit führt dann oft zu Phantastereien, mitunter recht flott in Welten, in denen das, was wir uns einbilden, wahr erscheint. Menschen brauchen manchmal einfache Antworten - um sich selbst leichter auf die Spur zu kommen, oder aus Bequemlichkeit, manchmal, um die Umstände überhaupt auszuhalten. Die Figur Lungenjunge in Deinem Stück fungiert unter anderem als Alter Ego des Protagonisten. Was für eine Aufgabe hat ein solches inneres Gegenüber für einen Neunjährigen? Hast Du eine solche Erfahrung von Eskapismus selbst gemacht?

David Zane Mairowitz: Die Figur des "Lungenjunge" in dem Stück wurde durch den realen Fall eines erkrankten Jungen inspiriert, der trotz seiner eisernen Lunge später sogar Anwalt wurde. Für mich war nicht so sehr das Alter Ego reizvoll, sondern die eiserne Lunge selbst, ein Gerät, das mir als Junge wie etwas aus der Science-Fiction vorkam. Und natürlich ihre akustischen Möglichkeiten, die mir automatisch eine zweite Klangkulisse für das Stück boten. "Lungenjunge" dient auch als Gegenspieler zur Mutter des Erzählers, die den Erzähler in ihre verängstigte Welt hineinzieht, in der der unsichtbare Feind "Ansteckung" heißt. Ich wollte absichtlich, dass "Lungenjunge" eine positive Note in die Polio-Frage bringt. Er ist bereits zahlreiche Male "gestorben", überlebt aber immer wieder aufs Neue. Er ist nicht nur ein Alter Ego für den Erzähler, sondern auch ein Lehrer, ein Guru. Als Neunjähriger hatte ich mehrere "heimliche" Freunde im Ohr, mit denen ich mich unterhielt und Geschichten erfand. Mit achtundsiebzig konsultiere ich sie immer noch für die meisten meiner guten Ideen.

Die Entscheidung, ein Hörspiel zu produzieren, das sich mit einer Seuche und ihren Auswirkungen beschäftigt, wird einem in unseren Zeiten nicht leicht gemacht. Der Publikationsmarkt ist voll mit mehr oder weniger literarischen Texten, die sich um dieses prominente Thema drehen. Dein Stück ist als Märchen angelegt, hat Comic-Elemente, phantasmagorische Ansätze, doch wenn die Erzählhaltung beiseite gelassen wird, zeigt sich ein sehr gegenwärtiges, also wahrscheinlich zeitloses Bild einer verseuchten Welt. Warum hast Du diese kindlich-bunte Form gewählt? War Dein Text von Anfang an als Märchen angelegt?

Ich möchte als Schriftsteller nicht auch nur in die Nähe des Wortes "Covid" kommen. Ich glaube, dass wir in vielleicht fünf oder sechs Jahren - vielleicht - herausfinden werden, was wir JETZT mit dieser Bedrohung erleben. Wir wissen noch NICHTS darüber. Und ich habe auch damit gerechnet, dass viele Autoren dieses Thema zu diesem Zeitpunkt angreifen würden, und ich hatte keine Lust, mich dieser Armee anzuschließen. Hinzu kommt, dass ich die Polio-Epidemie Anfang der 1950er Jahre wirklich miterlebt habe. Plötzlich durften wir nicht mehr schwimmen gehen, nicht mehr mit anderen Kindern spielen, usw. Ich führe in meinem Notizbuch eine Liste mit möglichen Ideen für Hörspiele oder Geschichten. Seit zwanzig Jahren starrt mich ein einziger Titel - ohne Stück - von der Seite an: "Das Polio Jahr". Nur ein Titel. Als ich im ersten Lockdown saß, schaute ich auf die Liste und das war's. Das Stück musste aus der Sicht eines Kindes erzählt werden. Polio ist im Grunde eine Kinderkrankheit. Ich arbeite oft mit Märchen, weil sie alle Elemente des Schreckens in sich tragen, die keine Geschichten für Erwachsene oder Horrorfilme bieten können. Und eines der dunklen Themen des Stücks hat mit der totalen Auslöschung der Kinder durch die fremde Welt der Erwachsenen zu tun. Dies kann nur von den Opfern erzählt werden. Aber ein weiterer Grund für das Märchen war, das Pathos zu vermeiden, das an sich schon der "Ansteckungsstoff" der meisten schlechten Literatur ist.

Der Sound im Hörspiel orientiert sich an den angesprochenen Genres, er ist opulent und doch präzise. Hat sich Dir in der Klangregie die Frage nach Stille gestellt? Warum bist Du in der Komposition durchgehend so kräftig und lückenlos geblieben? Ist es eine Form der Atemlosigkeit?

Meiner Erfahrung nach birgt der Einsatz eines Erzählers viele Fallen. Dazu gehört vor allem die akustische Trockenheit dieser Form. Sie kann tödlich langweilig sein und macht viele Hörspiele zunichte. Meine Absicht ist es fast immer, eine akustische Landschaft durch die Erzählung zu treiben, nicht nur als Klangbegleitung, sondern als Miterzähler der Geschichte. Im Fall von Das Polio Jahr wollte ich die langsame mentale Erinnerungsversion eines alten Mannes, der wie eine Uhr tickt, vermeiden. Ich weiß, dass es in der Welt des Hörspiels einen Platz für die Stille gibt und dass es eine starke Bewegung zugunsten der Stille gibt. Für mich ist das Hörspiel zu Ende, wenn der Ton aufhört. Sie können das Radio jetzt ausschalten. Der Erzähler in meinem Stück hat keine Zeit zu verlieren, keine Stille zu füllen, er muss seine Geschichte erzählen, bevor sie ihm entgleitet oder bevor die große Stille ihn einholt. Für mich muss es atemlos und verzweifelt sein. Und woher nimmt dieser 78-Jährige die Energie dafür? In der Stimme seines 9-jährigen Selbst.

Was beschäftigt Dich als Hörspielautor und -regisseur gerade?

In zwei Wochen werde ich für den Westdeutschen Rundfunk ein zweiteiliges Theaterstück (das auch ein Einteiler sein wird) mit dem Titel Orwells Remington produzieren. In den 1960er Jahren arbeitete ich in London als Redakteur für eine "Untergrund"-Zeitung, wo wir eine Zeitlang in unserem Büro tatsächlich die Schreibmaschine hatten, auf der der Roman 1984 getippt wurde. Bevor sie verschwand. Dies war für mich ein Anlass, meine militante Autobiografie aus den 60er Jahren wieder aufzugreifen und mich wie immer darüber lustig zu machen. Gleichzeitig arbeite ich mit meiner Partnerin Malgorzata Zerwe an einem neuen Feature für den Deutschlandfunk in Berlin, das sich mit der schwierigen Situation der LGBT-Community in Polen beschäftigt.

Gestaltung: Philip Scheiner