PENGUIN VERLAG
Eine versunkene Welt
Ulrike Draesners "Doggerland"
Das neue Buch der vielfach preisgekrönten Schriftstellerin Ulrike Draesner heißt "Doggerland". Das titelgebende Gebiet zwischen britischen Inseln und europäischem Festland versank vor rund 8.000 Jahren im Meer. Ausgelöscht durch den steigenden Meeresspiegel am Ende der Eiszeit und Überflutungen nach einem schweren Tsunami, liegt es heute unter dem Ärmelkanal. Draesner holt es in einem grafisch ansprechenden Langgedicht wieder an die Oberfläche und verknüpft es zweisprachig mit der Gegenwart.
11. November 2021, 02:00
"Ich hatte Lust, zu schauen, was da unter dem Ärmelkanal liegt und wie die beiden vielleicht doch verbunden sind", erzählt die Schriftstellerin Ulrike Draesner über den Ursprung dieses Gedichts. 2015 und 2016 unterrichtete sie an einer Universität in Großbritannien und erlebte dort den Brexit hautnah mit.
"Da ich England sehr liebe, haben der Brexit und die vielen Diskussionen rundherum viele Emotionen in mir hochgewirbelt, auch hinsichtlich der Frage, wie wir heute als Gesellschaft zusammenleben können. Und da hatte ich die Idee, auf dieses Land zwei Dörfer zu setzen. Die einen leben am Wasser und sprechen später dann Englisch und im anderen Dorf wohnen sie im Wald und sprechen später dann Deutsch. Aber zu Doggerlands Zeiten sprechen sie noch gar nicht so richtig oder irgendwie beides. Das muss sich erst entwickeln."
Die Steinzeit vor dem geografischen "Brexit": Zweisprachige Migrantengesellschaft
Und so entwickelt sich auch der Fließtext in der Mitte des querformatig gedruckten Buches als fortlaufende Mischung und Verbindung von englischen und deutschen Begriffen, Phrasen und Wortspielen, Lautmalerei, gefinkelten Binnenreimen und falschen Freunden. Links und rechts davon stehen in zwei Spalten englische und deutsche Schlagwörter. Dazwischen: viel weißer Raum, "wie das Meer der Zeit", so die Autorin.
Bei aller sprachlichen und strukturellen Raffinesse handelt es sich dennoch um ein Handlungsgedicht, in dem Ulrike Draesner das untergegangene steinzeitliche Paradies wieder zum Leben erweckt: als blühendes, fruchtbares Land und Jagdgebiet, besiedelt von einer Gesellschaft, die sich unserem heutigen Steinzeitbild klar entgegenstellt.
"Wir wissen ja nicht viel über diese Zeit, und das wenige, was überliefert ist, zeigt sich ganz klar als Projekt des 19. Jahrhunderts: Die Frauen mit ihrem typischen Schurz sitzen am Feuer vor der Höhle, daneben die mit Speeren bewaffnete Männer als Muskelprotze - das ist das pure Biedermeier projiziert auf die Steinzeit."
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Die Mammutjagd ist weiblich
Draesner schickt stattdessen eine Gruppe von Frauen auf Mammutjagd oder beschreibt den Versuch einer Frau, einen Habicht zu zähmen, inmitten einer üppigen Flora und Fauna, die ebenso beseelt ist wie die Menschen.
Die Handlung steht, auch grafisch, unter dem ständigen Einfluss von Wetterphänomenen. Regen, Sturm und Wind prasseln oder peitschen auf die Protagonistinnen nieder: in Form von dicken schwarzen Linien, Buchstaben, die vom Himmel regnen oder Wörtern, die sich zu Wolken formieren. Und allmählich wird aus dem Rückblick auf die steinzeitliche Gesellschaft eine düstere Vision der von Migration und Klimawandel geprägten Gegenwart.
Vergangenheit oder Dystopie der Zukunft
"Die Menschen damals lebten in einer sich erwärmenden Welt. Und zugleich waren sie alle Migranten. Denn, was da passiert und was ja auch in meinem Gedicht passiert, ist ja, dass da schon Menschen angesiedelt sind - die sogenannten Neandertaler - und dann kommt die sogenannte zweite afrikanische Migrationswelle. Die treffen aufeinander und müssen irgendwie miteinander zurechtkommen und immer wieder schlägt auf diese arme Gemeinschaft das Wetter nieder und zerstört alles, sodass sie wieder von vorne beginnen müssen."
… bevor sie am Ende fliehen oder untergehen. Ulrike Draesner wurde für ihre innovative Lyrik und Sprache vielfach ausgezeichnet. Heute Abend nimmt sie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds entgegen. Zurecht, wie die Lektüre ihres jüngsten Werkes mehr als deutlich erläutert.
Service
Ulrike Draesner, "Doggerland", Geicht, Penguin Verlag
Ulrike Draesner