
TODD ROSENBERG
1929-2021
Dirigent Bernard Haitink ist gestorben
Der niederländische Dirigent Bernard Haitink war fast 30 Jahre lang Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters und leitete unter anderem die Royal Opera in London, das Glyndebourne Festival und das Chicago Symphony Orchestra. Haitink stand auch mehr als einhundert Mal am Pult der Wiener Philharmoniker. Gestern starb er 92-jährig in London.
22. November 2021, 02:00
Apropos Klassik | 23 10 2021
In memoriam Bernard Haitink
Die Partitur ungeöffnet vor sich auf dem Pult, den Blick gesenkt, fast versunken in die Musik, so dirigierte der 90-jährige Bernard Haitink mit wenigen kleinen, aber entschlossenen Gesten die Wiener Philharmonikern beim Lucerne Festival 2019. Es war sein Abschied von der Weltöffentlichkeit nach mehr als 60 Berufsjahren und zugleich das Ende einer innigen Fernbeziehung mit den Wiener Philharmonikern.
Denn, so der Dirigent einmal in einem Ö1 Interview: "Ich freue mich immer, wenn ich wieder nach Wien kommen kann, um mit den Wiener Philharmoniker zu arbeiten. Eine Woche, vier, fünf Tage, manchmal etwas länger. Das ist immer eine Riesenfreude, weil ich die Wiener Philharmoniker - und das ist keine Höflichkeit, sondern die Wahrheit - sehr schätze. Ich finde es ein wunderbares, grundmusikalisches Orchester."
Mit Bruckners "Siebenter" durch ein Musikerleben
Das Werk, Bruckners Siebente, hatte Haitink schon als Kind begeistert und seine Karriere maßgeblich geprägt. Immer wieder dirigierte er es, bis zum letzten Auftritt. Seine Bruckner-Interpretationen waren weltberühmt, ebenso wie seine Mahler-, Brahms- und Schostakowitsch-Aufführungen.
Begonnen hatte Haitinks Karriere 1956, als der 27-Jährige kurzfristig für Carlo Maria Giulini am Pult des Amsterdamer Concertgebou-Orchesters einsprang. Schon fünf Jahre später war er für fast 30 Jahre dessen Chefdirigent. Haitink setzte den verkrusteten starren Strukturen neue Umgangsformen entgegen, die von Inspiration und Motivation geprägt waren. Gleichsam im Gegenzug lernte er mit dem Orchester das Werk Gustav Mahlers kennen und lieben.
Bejubelt und bescheiden
1988 ging Haitink nach London, wo er bis zuletzt lebte. Er leitete 14 Jahre lang die Royal Opera, war außerdem auch musikalischer Leiter des Opernfestivals in Glyndebourne, Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra, der Staatskapelle Dresden und des Chicago Symphony Orchestra.
So vielbeschäftigt, bekannt und gefeiert Haitink war, so sehr widersprach seine Haltung dem Gehabe eines gottgleichen Stardirigenten. Stets nüchtern und bescheiden, zweifelnd und ein wenig schüchtern näherte er sich neuen Werken und Aufgaben. So wurde er etwa auch erst nach dem Ableben Herbert von Karajans bei den Salzburger Festspielen vorstellig, wie Haitink in einem Ö1 Interview erzählte.
Hunderte Einspielungen, zahlreiche Ehrenmitgliedschaften
Haitink realisierte 450 Platteneinspielungen und war Ehrenmitglied zahlreicher Häuser und Orchester, darunter der Berliner und Wiener Philharmoniker. Von "seinem" Amsterdamer Concertgebouw verabschiedete er sich im Juni vor zwei Jahren mit einem eigenen Konzert, abermals mit Bruckners siebenter Symphonie. Die mehr als achtminütige Standing Ovation hätte wohl noch länger angedauert, hätte sie Bernard Haitink nicht mit einer kleinen, aber entschiedenen Geste gestoppt.