Dimensionen
„Ich denke mich, also bin ich“
Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers und Philosophen Paul Valéry.
22. November 2021, 02:00
Das zentrale Projekt von Paul Valéry bestand darin, Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Auf mehr als 26.000 Seiten der Cahiers, der Hefte, die als sein Hauptwerk gelten, finden sich zahlreiche Reflexionen über den Zusammenhang von Bewusstsein, Denken und Gedächtnis.
In immer neuen Anläufen beobachtete er seine Gedanken bei ihrer Entstehung, wobei er auf die Präzision der Beobachtungen größten Wert legte. Die Cahiers verstand Valéry als eine Form der Selbstschreibung: „Ich existiere, um etwas zu finden.“ Ähnlich wie Robert Musil entfaltete er einen „Möglichkeitssinn“; sein Denken richtete sich auf Kommendes, Potenzielles. Deswegen lehnte er das „lächerliche Systemdenken“ vieler Philosoph/innen ab, die von der Fehlannahme ausgingen, den vielfältigen Phänomenen ein einheitliches System überstülpen zu können.
„Ich bin allein, wie behaglich ist die Einsamkeit“
Valéry bezeichnete sich als „Anti-Philosophen“; den traditionellen Philosophen sah er als groteske Figur: „Der Philosoph ist einer, der weniger weiß als die anderen, da er doch über Jahre davon überzeugt war, für Probleme Lösungen bereitgestellt zu haben, die folgenlos bleiben.“
In literarischer Form findet sich die Suche nach der Klarheit über sich selbst in dem Romanfragment Herr Teste. In dem Gespräch mit dem Erzähler-Ich, das stolz bekennt, dass Dummheit nicht seine Stärke sei, wird Herr Teste als eine Kunstfigur vorgestellt, die das Bestreben nach einer vollkommen rationalisierten Existenz verkörpert. Er ist ein Grenzgänger, „ein apollinisches Gedankengeschöpf“, das das Wagnis auf sich nimmt, ohne philosophische Leitbilder selbst zu denken. „Er existiert als Werkstattleiter an einem virtuellen Bauhaus der Ideen“, schreibt Peter Sloterdijk. Herr Teste lehnt es ab, in die Falle irgendeiner sozialen Prägung zu gehen, die immer mit Konformitätsdruck verbunden ist. Diese Radikalität hat ihren Preis: Da Herr Teste jegliche sozialen Bindungen ablehnt und nur sein „reines Denken“ verfolgt, ist er völlig isoliert, was ihn nicht weiter stört. „Ich bin allein, wie behaglich ist die Einsamkeit“, heißt es gegen Ende des Textes.
„Unmöglich ist es, lautstark zu schreien und gerecht zu sein."
„Mein philosophischer Gesichtspunkt ist die Vielfalt der Gesichtspunkte“, schrieb Valéry. Einer dieser Gesichtspunkte ist überraschenderweise seine Schrift Prinzipien aufgeklärter Anarchie. Als Anarchisten bezeichnet er einen Beobachter, „der das sieht, was er sieht, und nicht das, was man gemeinhin sieht. Er denkt darüber nach.“ Das Ergebnis dieses Nachdenkprozesses sind kritische Bemerkungen über die zunehmende Bürokratisierung der Gesellschaft, über die Verbreitung irrationaler Meinungen, über den Dogmatismus und die Beschränktheit parteipolitischer Überzeugungen, über ideologisch motivierten Aktivismus, der lautstark in der Öffentlichkeit erfolgt, („Unmöglich ist es, lautstark zu schreien und gerecht zu sein“) und über Medien, die der Unterhaltung und Zerstreuung dienen. Diese Bemerkungen, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden, können als Anleitungen dienen, aktuelle zeitgenössische Phänomene zu analysieren; sie nicht zu sehen, wie es irgendeine Interessengruppierung fordert, sondern so, wie sie sind. Deshalb ruft Valéry dazu auf, solchen Aufforderungen keine Folge zu leisten: „An-archie ist der Versuch, jegliche Unterwerfung unter einen Befehl, der auf Unverifizierbarem gründet, zurückzuweisen.“