Mann hält sich Waffe an die Schläfe

MATTHIAS HORN

Burgtheater

"Der Selbstmörder"

Nikolai Erdmanns groteske Komödie "Der Selbstmörder" nimmt das zerrissene, orientierungslose Russland nach der Revolution aufs Korn, aber auch die eifrigen Tendenzen, das verunsicherte Volk für alle möglichen Ideen zu instrumentalisieren. Die Burgtheater-Inszenierung von Peter Jordan und Leonhard Koppelmann bedarf keiner Aktualisierungsbemühungen, um treffsicher die Wunden der Gegenwart offenzulegen.

Mitten in der Nacht hat Semjon Lust auf Leberwurst. Er weckt seine Frau auf und evoziert damit einen gewaltigen Ehekrach. Eines kommt zum anderen und schon eilt das Gerücht durch die ganze Nachbarschaft: Semjon Semjonowitsch wird sich das Leben nehmen. Doch, weshalb, oder vielmehr, wofür eigentlich? Auch in dieser Frage ist die Nachbarschaft verlässlich zur Stelle. Jeder und jede hat mindestens einen Grund auf Lager, für den es sich zu sterben lohnt: Die Liebe, die Religion, die Intelligenz oder die Jugend.

"Wenn Sie selber keine Orientierung für sich finden, seien Sie sicher, dass es andere für Sie tun", meint Peter Jordan und Co-Regisseur Leonhard Koppelmann ergänzt: "Uns kam der Stoff erstaunlich zeitgenössisch vor. Wir spüren ja auch, dass wir gerade tiefe gesellschaftliche Eruptionen erleben und dass man sich dem als Individuum bisweilen ausgeliefert fühlt so wie eben Semjon im Stück. Er soll sich im Namen verschiedener Ideale und Ideen umbringen, und führt eigentlich ein ganz zufriedenes Leben."

Kleines Würstchen, ideologisch beladen

Nikolai Erdmans groteske Komödie entstand kurz nach der russischen Revolution, deutlich geprägt von der Aufgebrachtheit und Aufgeregtheit auf allen Seiten und von der Unsicherheit zwischen den noch wackeligen Fronten. Süffisant und schelmisch seziert er die Instrumentalisierung des kleinen, unbedeutenden Mannes durch die unterschiedlichsten, scheinbar großen Ideologien. "Mittendrin steht er als das kleine Würstchen, das von allen vereinnahmt wird. Das zu zeigen, macht schon Spaß", sagt Peter Jordan.

Punk-Community im Moskauer Untergrund

Er und Koppelmann verwandeln das omnipräsente Ensemble, darunter Florian Teichtmeister, Markus Hering, Dietmar König und Lilith Häßle, in eine Punk-Community, wie sie auch im New Yorker oder Moskauer Untergrund hausen könnte: "Wir haben eine Gemeinschaft am Rand der Gesellschaft gesucht, die ganz anders denkt und lebt als alles, von dem sie ideologisch gekapert wird", so die Regisseure.

Die schwarze Bühne erinnert an eine verlassene Fabrik, hinter den Fenstern rauscht die Eisenbahn vorbei und ständig tropft irgendwo der Abfluss. Dort schlafen, essen, leben und lieben die skurrilen Figuren förmlich neben- und übereinander, teilen sich Bett und Badewanne und sind stets bestens im Bilde über die vielen Heimlichkeiten in der Nachbarschaft.

Totgeweihte leben ruhmvoller

In diesem Tumult werden eifrig Abschiedsbriefe formuliert, und der geschäftstüchtige Nachbar Alexander lässt sich dafür bezahlen, sie dem Lebensmüden unterzujubeln. Und langsam dämmert es Semjon: wofür auch immer er sich zu sterben entscheidet, sein posthumer Ruhm scheint gesichert. Auch, und das ist der kleine Haken an der Sache, auch wenn er eigentlich viel zu feig ist, um sich zu erschießen.

Der bittere Humor wird über den Rhythmus und die temporeiche Sprache transportiert. Basierend auf einer Neuübersetzung wurde der Text entkernt und zugespitzt, ohne ihn seiner russischen Seele zu berauben, so die Regisseure: "Zum Beispiel die umständlichen Umgangsformen der Charaktere, oder dass sie sich immer beim ganzen Namen nennen, das musste schon drinbleiben", sagt Peter Jordan.

Theater im Duett

Seit Jahren führen Jordan und Koppelmann regelmäßig zusammen Regie. Ihr Resümee: "Der Nachteil ist, dass man sich die Gage teilen muss, aber - und das ist der Vorteil - man teilt sich auch die Sorgen kurz vor der Premiere, ob es wirklich funktioniert, ob die Ideen aufgehen. Wir tauschen uns aus, auch abseits des Theaters und können uns gegenseitig bestärken." Zuletzt hat sich das Inszenieren im Duett zumeist als Glücksfall erwiesen, und im aktuellen Fall scheint es ebenfalls einer zu werden.

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