APA/HANS PUNZ
Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker
Es war einmal Champagnerlaune, Walzerglück und Polkaspaß in den rauschenden Wiener Faschingsnächten. Aber die Fledermaus-Quadrille wird in der anstehenden Ballsaison, coronabedingt erneut ein Absagereigen, kaum über das mitternächtliche Tanzparkett tönen. Dafür begrüßte die Fledermaus-Ouvertüre das neue Jahr standesgemäß - und mit ein wenig Wehmut - im Wiener Musikverein: Beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, am 1. Jänner 2022 zum dritten Mal geleitet von Daniel Barenboim.
30. Jänner 2022, 02:00
Wegen der Pandemie durften nur 1.000 Besucher/innen in den Goldenen Saal des Wiener Musikvereins kommen, es galt die 2G-Plus-Regel. Aber verglichen zum Konzert vor leeren Sitzreihen am 1. Jänner 2021 war die Anwesenheit einer maskierten Hörer/innenschar freilich ein Fortschritt. „Applaus vor Ort“ ist immer wichtig, und kaum ein Repertoire verlangt sosehr danach wie jenes, das uns jährlich am 1. Jänner um 11.00 Uhr ins Haus steht.
Johann Strauss und seine Kollegen komponierten für den intensiven, ja hautnahen Kontakt von Menschen im Kopf, man sollte zu ihrer leidenschaftlichen Musik tanzen oder mindestens klatschen, in überfüllten Ball-Sälen, ohne Distanz, stundenlang, ohne Ende.
„Wir können gemeinsam Großes bewegen."
Am Instagram-Account von Daniel Barenboim erschien ein Video, das abwechselnd den Maestro am Klavier und erschütternde Photos vom Flüchtlings-Elend aus aller Welt zeigte. Das Video bewirbt einen Abend Ende November im Berliner Boulez-Saal für die UNO-Flüchtlingshilfe und das UNHCR. Zu den starken Bildern liest man den Kommentar: "Wir können gemeinsam Großes bewegen, aber nur, wenn wir aufeinander hören und uns gegenseitig unterstützen, so wie in der Musik."
Es sei sehr wichtig, so Barenboim in seinen die ersten Takte des Donauwalzers unterbrechenden Grußworten, dass die Wiener Philharmoniker dieses Konzert jedes Jahr spielen. "Aber umso wichtiger ist es heute." Die Coronapandemie sei eine "menschliche Katastrophe, die versucht, uns auseinander zu drängen". Am Orchester, das im gemeinsamen Musizieren eins wird im Denken und Fühlen, solle sich jeder ein Beispiel nehmen. "Es ist für mich eine riesige Inspiration, heute hier zu sein. Nehmen wir dieses Beispiel von Menschlichkeit und Einigkeit mit in unseren Alltag."
Gute Musik kennt keine Genre- oder Epochen-Grenzen
Der am 15. November 1942 als Sohn russischer jüdischer Immigranten in Buenos Aires geborene Pianist und Dirigent ist ein Brückenbauer. Hier nur zwei Beispiele: Das von ihm 1999 mitbegründete West-Eastern Divan Orchestra bringt MusikerInnen aus dem Nahen Osten, egal welcher Nationalität, zusammen. 2011 gastierte er mit Mitgliedern der Berliner und Wiener Philharmoniker, des Orchesters der Mailänder Scala und der Staatskapelle Berlin, die sich zu einem europäischen All-Star-Ensemble formierten, in Gaza.
Barenboim, dessen Eltern in den 1950er Jahren von Argentinien nach Israel übersiedelten, war ein Wunderkind, gefördert von Furtwängler, Stokowski, Nadja Boulanger und Arthur Rubinstein. Er hat nie vergessen, dass Talent allein nicht genügt, dass es Menschen braucht, die die Entfaltung ermöglichen. Und er beweist mit einem immens breit angelegten Repertoire als Dirigent, dass gute Musik keine Genre- oder Epochen-Grenzen kennt. So legt er auch sein drittes Neujahrskonzert vielfältig und weltumspannend an: Mit dem Persischen Marsch und dem Walzer „Tausend und eine Nacht“ wird dem Orient als Sehnsuchtsort gehuldigt. Drei im ersten Teil direkt aufeinander folgende Stücke befassen sich, zumindest dem Titel nach, mit dem Thema Journalismus. Und das Programm wird von mythologischen Gestalten aller Art bevölkert, von Sirenen über Nymphen bis zum Phönix. Dem Vogel, der sich aus der Asche erhob, sind gleich die ersten beiden Stücke des Konzertes gewidmet. Wenn das kein symbolischer Auftakt ist, in Zeiten, da niemand weiß, wann sich die Welt aus dem Feuer der Pandemie zu neuem Leben wird befreien können.