Friedrich Kiesler arbeitet am Maschendrahtmodell seines "Endless House"

© ÖSTERREICHISCHE FRIEDRICH UND LILLIAN KIESLER-PRIVATSTIFTUNG/WIEN

Friedrich Kiesler

Vision der schwebenden Stadt

Den Menschen - und nicht die "schöne Form" - stellte der Architekt, Künstler Designer und Bühnenbildner Friedrich Kiesler entschlossen in den Mittelpunkt seines Schaffens. 1890 in Czernowitz geboren, studierte er in Wien und lebte ab 1926 in den USA.

Dass sein avantgardistisches, visionäres Werk in Österreich heute wahrgenommen und durch die Fachwelt gewürdigt wird, ist der Friedrich Kiesler Stiftung zu verdanken. Sie wurde vor 25 Jahren gegründet und begeht das Jubiläum mit einer Reihe von Archivgesprächen, Publikationen und einer neuen Ausstellung in den Räumen der Stiftung in der Wiener Mariahilfer Straße.

Als "größten nichtbauenden Architekten seiner Zeit" soll der Architekt und Theoretiker Philip Johnson Friedrich Kiesler bezeichnet haben - tatsächlich hat er kaum größere Bauwerke realisieren können, dafür aber mit seinen bahnbrechenden Denkansätzen die Entwicklungen in der Kunst und in der Architektur des 20. Jahrhunderts beeinflusst.

Friedrich Kiesler an seinem Schreibtisch

BEN SCHNALL

Friedrich Kiesler an seinem Schreibtisch, New York, 1947

Anfang der 1920er Jahre machte Kiesler mit radikal-avantgardistischen Theaterkonzepten und Ausstellungsgestaltungen auf sich aufmerksam. 1926 übersiedelte er in die USA, wo er bis zu seinem Tod 1965 in New York lebte und wirkte. Mit dem Erwerb des Nachlasses 1996 durch die Stadt Wien, den Bund und private Stifter wurde die Kiesler Stiftung gegründet, die heute von Gerd Zillner geleitet wird. "Die wesentliche Aufgabe und Leistung der Stiftung in den letzten 25 Jahren ist es, Friedrich Kiesler in den aktuellen Architektur- und Kunst-Diskurs einzuschreiben", so Zillner. Mit Publikationen und Ausstellungen, aber auch mit dem hochdotierten Friedrich-Kiesler-Preis, der alle zwei Jahre an Künstler oder Architektinnen vergeben wird. Die Verleihung des Preises 2021 an Theaster Gates musste verschoben werden und soll heuer nachgeholt werden. Außerdem ist im Jubiläumsjahr ein kontinuierliches Diskursprogramm geplant.

Gedankenbetrachtung anhand von Originalen

"Das Wunderbare an unserer Institution ist, dass wir den Nachlass hier haben. Vor allen Dingen Arbeiten auf Papier, seine Korrespondenz und Fotografien. In einer Reihe an Archiv-Gesprächen wollen wir jeden Monat einen Teilaspekt beleuchten und laden dazu ein, hier im Archiv sonst nicht zugängliches Material gemeinsam zu sichten. Wir stellen dann einen Tisch auf, holen Zeichnungen, Fotos aus dem Archiv, legen die auf und besprechen sie gemeinsam. Wie eine Dia- oder eine Powerpoint-Präsentation, nur mit Originalen."

Ein Workshop wird sich mit Kieslers Correalismus-Theorie befassen, einer ganzheitlichen, transdisziplinären Design-Grundlage, die Kiesler seit den 1930er Jahren entwickelt hatte. Gerd Zillner führt Kieslers Gedankengang aus: "Form folgt nicht der Funktion, Form folgt der Vision. Vision folgt der Wirklichkeit. Also: Aus der Beschäftigung mit Problemen des täglichen Lebens leitet man neue Ansprüche ab. Und diese können zu neuen Objekten führen. Die werden wiederum als Teil der bestehenden Fakten unserer Welt, in der wir leben werden, erprobt; und daraus leiten sich dann wiederum neue Ansprüche ab. Ein nie endender Gedankenprozess."

Die Stadt der Zukunft wird mehrdimensional

Eröffnet wird das Jubiläumsjahr mit einer Ausstellung zu Friedrich Kieslers "Raumstadt", die er vor fast hundert Jahren entwickelt hatte und die immer noch ein gültiges Denkmodell für die Stadtplanung der Zukunft darstellt, wie Gerd Zillner meint: "Die Raumstadt Friedrich Kieslers ist ein geniales Projekt und steht ganz typisch für sein Schaffen. Er wird von Josef Hoffmann beauftragt, eine Ausstellungsarchitektur für die Theater-Sektion des österreichischen Beitrags zur Internationalen Ausstellung für Dekorative Kunst und Industrie in Paris 1925 zu entwickeln. Und er nutzt den Anlass, um über die Ausstellungsgestaltung hinaus ein Modell für eine im freien Raum schwebende Struktur zu entwickeln."

Friedrich Kiesler, Raumstadt, Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes, Paris 1925

Friedrich Kiesler, Raumstadt, Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes, Paris 1925

ÖSTERREICHISCHE FRIEDRICH UND LILLIAN KIESLER-PRIVATSTIFTUNG/WIEN

Das Modell dieser Raumstadt von 1925 ist auf Fotografien überliefert - das Modell einer Rekonstruktion dieses Modells ist in der Kiesler-Stiftung ausgestellt. Man kann sich diese Struktur aus Trägern, Ständern, Balken und verschieden großen, unregelmäßig angeordneten Flächen wie ein dreidimensionales Mondrian-Gemälde in Schwarzweiß vorstellen.

Die Lösung des Verkehrs- und Hygieneproblems

Die theoretische Grundlage dafür lieferte ein Manifest zur Organisation der modernen Stadt. Darin schreibt Kiesler:

"Statt Ornamenten glatte Mauern, statt Kunst Architektur – nichts von alldem: ich fordere den Vitalbau, die Raumstadt, die funktionelle Architektur. Den Bau der Elastizität der Lebensfunktion adäquat.

Es ist gleichgültig, ob ihr Kuppeln oder Kuben über die Menschen stülpt. Sie ersticken auf die eine und andere Weise. Und Eure Fensterlöcher befreien sie nicht.

Man muss die Impulse der Zeit entdecken, wie man die Elektrizität entdeckte und muss das neue Leben erfinden, wie man den Motor erfand. Bis dahin ist es ein leiblicher Verdauungsprozess. Die neue Stadt wird die Lösung des Verkehrs- und Hygieneproblems bringen, die Mannigfaltigkeit des Privatlebens ermöglichen und die Freiheit der Masse. Sie ist nicht gebaut um zu genügen, sondern aus straffster Oekonomie der Mittel grösstmöglichsten Ueberfluss zu schaffen. Häuser, die man über die Menschen stülpt, indem man ihnen zuruft: schlafet gut, esset gut und lüftet Euch mehrmals, Häuser in diesem Sinne wird es nicht mehr geben und mit ihrem Verschwinden lösen sich auch die Gassen in freie Wohn- und Arbeitsstätten auf."

"Hängt das von Zeppelinen herab?"

Eine Stadt, die "frei im Raume" schwebt und dem mehrdimensionalen Terrain entsprechend "föderativ dezentralisiert" ist - so stellte Kiesler sich die "Lösung des Verkehrs- und Hygieneproblems" vor. Aber: Wie baut man sowas? - die Frage stellten sich auch berufene Kollegen. Es sei überliefert, so Gerd Zillner, dass Le Corbusier die Pariser Ausstellung 1925 besucht hat. "Daraufhin lädt er Friedrich Kiesler in sein Atelier ein, setzt ihn an einen Tisch und sagt: 'So, und jetzt zeichne mir bitte auf, wie die Konstruktion funktionieren würde. Hängt das von Zeppelinen herab?' Das war der Startschuss für eine sehr lustige und auch konstruktive Freund- und Feindschaft, könnte man sagen."

Raumstadt Gruppenfoto

Gruppenporträt vor der Raumstadt mit u.a. George und Böske Antheil, Theo und Nelly van Doesburg, Juan und Josette Gris, Friedrich Kiesler, Konstantin Melnikow, László Moholy-Nagy, Auguste Perret, Tristan Tzara, Agathe Wegerif-Gravestein. Paris, 1925

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Abgesehen von der städtebaulichen Vision, war die Raumstadt-Installation, die Kiesler 1925 in Paris bei der Expo baute, in erster Linie ein Ausstellungsdisplay, eine Trägerstruktur für Exponate, die österreichische Errungenschaften in der Theatertechnik und Szenografie veranschaulichten. Diese Ausstellungsstücke konnten die Besucherinnen übrigens mithilfe von Reflektoren und Lichtquellen in dem sonst dunklen Raum selbst beleuchten und sichtbar machen. "Interaktion und die Aufhebung der Trennung der Grenze zwischen den Betrachterinnen und Betrachtern des Kunstwerks. Das war für Kiesler eine fundamentale Herangehensweise. Und man muss sich dabei immer vergegenwärtigen: Kiesler kommt vom Theater. Da ist natürlich Dramaturgie im Raum essentiell. Lichtregie, Beleuchtung, das sind Bereiche, in denen er eine hohe Expertise und Meisterschaft hatte."

Service

Friedrich Kiesler Stiftung

Gestaltung

  • Anna Soucek