Nach dem Erdbeben in Italien hat eine Kirche großen Schaden erlitten.

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Roman

"Rombo" von Esther Kinsky

1976 erschütterten mehrere schwere Erdbeben das Friaul, fast tausend Menschen kamen damals ums Leben, mehr als 70.000 wurden obdachlos. Die Schriftstellerin Esther Kinsky, 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und 2020 mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet, lässt in ihrem dokumentarischen Roman fremde Erinnerungen und selbst Erlebtes zusammenfließen.

Mehr als 45 Jahre ist das Erdbeben her, dessen Epizentrum damals nördlich von Udine lag, doch das Grollen, italienisch "Rombo" haben noch die meisten im Ohr, die traumatischen Erinnerungen tragen die Menschen bis heute mit sich herum.

Trauma und Mythos

"Ich habe auf einer Wanderung eine Frau getroffen", erzählt Esther Kinsky. "Und als ich sie auf das Erdbeben ansprach, meinte sie gleich: Ja, ich war damals acht und in Gemona und über uns ist das Haus zusammengebrochen und ich hatte noch meine Großmutter an der Hand, die tot war."

In ihren Büchern, darunter "Banatsko", "Am Fluss" oder "Hain" unternimmt Kinsky immer wieder Geländeerkundungen. Dabei interessieren sie gleichermaßen Gesellschaft und Geologie, bei ihr erzählen die Menschen genauso wie die Steine, und hier, in den Nachwehen der verheerenden Erdbeben, verweben sich die Stimmen ineinander. "Je weiter so ein kollektives Trauma wegrückt, desto mehr wird es zum Mythos und verflicht sich, zumindest in diesen abgelegenen Tälern mit sehr viel anderem Mythischen."

Esther Kinskys Roman "Rombo" ist bei Suhrkamp erschienen.

Beweg' Dich nicht!

Die Wissenschaft misst die Erdstöße und Erschütterungen und die Mythen erzählen über deren Entstehung. In der Region sind die Sagen und Legenden stark vom slawischen Volksglauben geprägt und da spielt die schaurige und in der Adria hausende Riba Faronika eine bedeutende Rolle.

"Sie hat einen Menschenkopf, aber einen gespaltenen Fischschwanz", so Esther Kinsky. "Und wenn sie sich auf die eine Seite dreht, gibt es eine Flut, und wenn sie sich auf die andere Seite dreht, ein Erdbeben. Und es gibt dieses wunderschöne Lied 'Riba Faronika', das ist so eine Art Beschwörung: Beweg Dich nicht!"

Ziegenmelker und Kuckucksblume

Das Friaul und seine Alpenpässe waren seit jeher eine Durchzugsregion, für Menschen und Güter, aber auch Tiere und Pflanzen verbreiteten sich entlang dieser Wege und ließen eine einzigartige Flora und Fauna entstehen.

Esther Kinsky ist auch Lyrikerin und Essayistin und beides, die melodische Sprache wie auch das Gespür für Gedankensprünge, sind dafür verantwortlich, dass man in ihrem Roman "Rombo" von Ziegenmelker und Kuckucksblume und eine Seite weiter von der migrantischen Realität der Region lesen kann.

Südamerikanische Friulaner

"Die wenigsten wissen", so Esther Kinsky, "dass das Friaul, diese dünn besiedelte Provinz, immer schon hinter Sizilien und Kalabrien an dritter Stelle gestanden hat, was die Arbeitsmigration anging. Und mir hat einmal jemand erzählt: Es gibt überhaupt keine Familie im Friaul, die keine Verwandten in Südamerika hat."

Olga, die aus Venezuela stammt und Toni, der nach dem Erdbeben zum Arbeiten nach Moskau wollte, erzählen im Buch neben anderen ihre Leben.

Geritzte Unterschriften

Die sieben Kapitel von "Rombo" sind mit Zitaten von Geologen des 18. und 19. Jahrhunderts eingeleitet werden und mit Fotos, die Ritzspuren auf dem alten Fresko im Dom von Venzone zeigen. "Das sind sie Signaturen der Pilger", so Kinsky, "die zum großen Teil gar nicht schreiben konnten. Es war ihre Art zu sagen: Ich bin hier gewesen!"

Hier gewesen ist auch Esther Kinsky als Pilgerin in eigener Sache und "Rombo" heißt das Ergebnis ihrer wunderbaren Wallfahrt des Staunens.

Service

Esther Kinsky, "Rombo", Roman, Suhrkamp

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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