Charles Mingus

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Exzentriker und Jazzgigant

Charles Mingus zum 100. Geburtstag

Beneath the Underdog, übersetzt also in etwa Unterhalb des Außenseiters, nannte Charles Mingus seine wüste Autobiografie und meinte damit wahrscheinlich auch seinen Status in der amerikanischen Gesellschaft. Als Bandleader, Bassist, vor allem aber amerikanischer Komponist von Rang sah er sich trotz alledem zeitlebens ausgegrenzt, außerhalb der Gemeinschaft.

Trotz naturgegebener Musikalität und großen Interesses an klassischer Musik musste Mingus, Kind afro-amerikanischer Eltern mit asiatischen Wurzeln mütterlicherseits, früh erkennen, dass seine Hautfarbe nicht zum Erscheinungsbild der amerikanischen Orchester der 1940er Jahre passte. Dagegen blieben früheste musikalische Erfahrungen, geprägt durch Kirchenmusik sowie Radiosendungen mit dem Duke Ellington Orchestra, als Einflüsse auch in seiner eigenen Musik bestimmend.

In den 1940er Jahren war Mingus so etwas wie ein Phänomen am Kontrabass, er war mit Louis Armstrong auf Tournee und komponierte für Lionel Hamptons Big Band das Virtuosenstück Mingus Fingers, in dem er den Kontrabass aus seiner drögen Begleitfunktion emanzipierte und melodisch einsetzte. Ihm war Jazz zeitlebens eine ernste Angelegenheit, und wenn das Publikum seine Konzerte durch laute Konversation störte oder mit den Gläsern klirrte, verstand Charles Mingus keinen Spaß und begann Streit.

Das zornige Genie

Sein aufbrausendes Naturell war oft die Ursache für Rückschläge und Krisen, von Duke Ellington wurde er gefeuert, weil er handgreiflich wurde, und so setzte sich in der Geschichtsschreibung das Narrativ vom zornigen Genie durch, das sich einerseits gegen seine - vermeintlichen - Unterdrücker zur Wehr setzt, aber auch wahllos austeilt. In seinen Songtiteln ging er ebenfalls auf Konfrontationskurs und machte seinem Unmut Luft: Remember Rockefeller at Attica, Meditations (For a Pair of Wire-Cutters, Free Cell Block F. 'Tis Nazi USA., Oh Lord Don't Let Them Drop That Atomic Bomb on Me hießen seine Stücke, und er offenbarte sein rätselhaftes, widersprüchliches Innenleben: All the Things You Could Be If Sigmund Freud's Wife Was Your Mother.

Das Leben von Charles Mingus war von Widersprüchen geprägt: Er gab seinen Musikern Freiheit, und in seinen Bands erklangen die markantesten Instrumentalstimmen der Jazzmoderne, allen voran Booker Ervin, Mal Waldron, Roland Kirk und Eric Dolphy. Niemals aber wurde die Geschichte infrage gestellt. Improvisiert wurde kollektiv und mit Freiraum, der Free Jazz vorweggenommen, aber ohne New Orleans zu verleugnen. Das Instrument bearbeitet er mit vollem Körpereinsatz, und doch schwang eine gewisse emotionale Zartheit mit.

Zwischen Wutausbrüchen und großen Erfolgen

Seine Kompositionen, die in den amerikanischen Jazzkanon eingegangen sind, waren keine Allerwelt-Standards, sondern verlangten Aufmerksamkeit. Mitte der 1950er Jahre führte er für seine Bandkonzerte den Begriff Workshop ein, bei Auftritten forderte er das Publikum zu Diskussionen auf, er gründete mit Debut Records seine eigenes Plattenlabel und einen Musikverlag, um seine urheberrechtlichen Ansprüche abzusichern, und schrieb nebenher Filmmusiken - unter anderem für John Cassavetes. Seine Karriere, durch ein stetes Auf und Ab zwischen Wutausbrüchen und großen künstlerischen Erfolgen geprägt, lieferte Stoff für verstörende Dokumentarfilme.

Mingus, dessen Geburtstag sich am 22. April zum 100. Mal jährt, war selbst an der Legendenbildung beteiligt und darauf bedacht, prahlerische Anekdoten um sein Leben zu spinnen. All das Mythenhafte scheint bis heute sein Werk zu überdecken, oder zumindest mit der intensiven Klangschönheit seiner Musik zu konkurrieren. 1977 wurde Mingus mit der Nervenkrankheit ALS diagnostiziert und starb zwei Jahre später. Seine Asche wollte er in den Ganges gestreut wissen, ein letzter Wunsch, dem seine Witwe Sue Mingus, die auch seinen Nachlass verwaltet, nachkam.