Lily King

WINKY LEWIS

Fangenspiel mit dem Leben

Lily Kings Erzählband ‚Hotel Seattle‘

Selten gibt es für ein Buch so einhelliges Lob wie für „Hotel Seattle“ von der U.S.-Amerikanerin Lily King: Nach ihrem internationalen Bestseller, dem Roman „Writers & Lovers“, ist das ihr erster Band mit Kurzgeschichten und auch hier schwärmte die Kritik wieder über den Sog, den die Erzählungen entwickeln und die Genauigkeit, mit der King ihren Figuren beim Leben und Überleben zusieht.

Eine Mutter verbringt mit ihrer zwölfjährigen Tochter den Sommerurlaub auf einer Nordseeinsel. Seit dem Unfalltod des Vaters vor knapp zwei Jahren findet sie keinen Zugang mehr zu ihrem Kind, kalt und knapp sind die Antworten des Mädchens. Oder ein Großvater, der am Krankenbett seiner Enkelin sitzt, die seit einem Schiunfall im Koma liegt, und auf sie einspricht, um sie ins Leben zurückzuholen.

Keine Angst vor Happy Endings

Es sind oft tragische Situationen, mit denen Lily King ihre Geschichten eröffnet, doch bricht sie diese harten Momente nach und nach auf, als wäre das Unglück ein dunkler Stein, in dem sich helle Einschlüsse finden lassen. Angst vor einem Happy End kennt Lily King nicht: „Meine Figuren müssen so viel Mist durchmachen und werden emotional derart durchgeschüttelt, dass ich das Gefühl habe, ich schulde ihnen, wenigstens zum Ende hin, eine kleine Freude.“

Eilige Erklärungen

Diese kleinen Freuden sind aber weder oberflächlich noch banal, sondern funkelnde Entdeckungen, die dem Leben abgetrotzt werden. Es ist die Psyche ihrer Figuren, die sie beim Schreiben weit mehr interessiere als irgendein Plot, sagt Lily King, und tatsächlich hat man das Gefühl, dass ihre Figuren von einer ungeheuren Dringlichkeit vorangetrieben werden.

„Eine Theorie sagt, dass wir zuerst handeln und uns erst eine Nanosekunde später erklären, warum wir so und nicht anders gehandelt haben“, sagt Lily King. „Wir haben also keinen freien Willen, sondern laufen unseren Handlungen hinterher, immer in Eile rechtzeitig eine Erklärung für sie parat zu haben. Und genau das, empfinde ich, wenn ich schreibe.“

In Geschichten leben

In vielen von Lily Kings Erzählungen herrscht eine feine Melancholie, manchmal bricht aber auch das pralle Leben aus ihnen hervor. Dass King alle Tonlagen beherrscht und spielend zwischen ihnen wechseln kann, zeigt die Kurzgeschichte „Zeitstrahl“. In einer an sich angespannten Situation kommt es plötzlich zum Fangenspiel mit einer Betrunkenen: Da gibt es dann Slapstick vom Feinsten mit Dialogen zum Niederknien, eine Szene, bei der man auch beim Lesen außer Atem kommt. „Ich will den Leser nicht an Fäden durch die Geschichte ziehen“, so Lily King, „sondern eine Welt schaffen, die so stimmig und real ist, dass er das Gefühl hat, das, was er liest, wirklich zu erleben.“

Klassentreffen

Im Interview erzählt Lily King ganz offen, wie sie in ihrem Leben alle gesellschaftlichen Klassen durchquert hat und das mehrmals. Ein Alkoholikervater und die Scheidung der Eltern hat sie wirkliche Armut erleben lassen, der neue Mann der Mutter und - viel später - ihr Erfolg als Schriftstellerin ein Leben im Wohlstand. Wahrscheinlich ist das der Grund, dass die Begegnung der verschiedenen Klassen in ihrem Schreiben eine derart zentrale Rolle spielt.

„Dieses Thema umgibt uns ständig“, so Lily King. „Wir leben in Blasen, die wir nur schwer verlassen können. Zwischen den gesellschaftlichen Klassen bestehen so viele feine Unterschiede, die man einfach nicht wahrnimmt oder weiß, und diese Phänomene aufzudecken und zu enthüllen, finde ich spannend. Deshalb bringe ich in meinen Geschichten auch immer Figuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen zusammen.“

Kopfkino mit Perlen

„Hotel Seattle“ von Lily King und übersetzt von Hanna Hesse - das ist Kopfkino mit Gänsehautfaktor, ein Fangenspiel mit dem Leben, bei dem man aufpassen muss, dass man die Perlen nicht überliest, die King ganz beiläufig in ihre Geschichten streut.

Gestaltung

  • Wolfgang Popp