Tautropfen auf einem Grashalm

APA/dpa/Silas Stein

Du holde Kunst

Dörte Lyssewskis Lob der Faulheit

Eine Lanze für den von seiner Nützlichkeit befreiten Menschen brechen in Du holde Kunst Erich Kästner, Joseph von Eichendorff, Bertolt Brecht, Joachim Ringelnatz, Pablo Neruda, H. C. Artmann und Gotthold Ephraim Lessing. Ihre Gedichte spricht Dörte Lyssewski

Über Faulheit zu schreiben ist im Augenblick, wie hungernd eine Mahlzeit zu zeichnen. Man schwitzt im Homeoffice, draußen locken schattige Plätze in der Nähe von Gewässern. Nur ihre Überwindung lässt die Faulheit zu ihrem Recht auf Lob kommen. Ist Faulheit bloß der innere Schweinehund, der Geist, der stets verneint, das quengelnde Es? Ist sie pathologisch, unsittlich? Oder eine Form der Selbstbehauptung - gar eine konstruktive?

Muße ist wesentlich für die zivilisatorische Entwicklung.

So schrieb Bertrand Russell schon 1957 in "Lob des Müßiggangs" - und weiter: "…in früherer Zeit wurde die Muße weniger nur möglich durch die Arbeit vieler. Aber ihre Leistungen waren wertvoll, nicht weil Arbeit an sich, sondern weil Muße etwas Gutes ist. Und bei dem Stand der modernen Technik wäre es möglich, allen Menschen Freizeit und Muße gleichmäßig zuzuteilen, ohne Nachteil für die Zivilisation." Es kam anders.

Das Arbeitsethos, nach Russell ein Herrschaftsinstrument, wurde als Selbstoptimierung bis in die persönlichsten Bereiche verinnerlicht.

In den Debatten um ein bedingungsloses Grundeinkommen taucht die Forderung nach Muße erneut auf, allerdings eher verschämt, denn vornehmlich scheint es um Verteilungsgerechtigkeit zu gehen.

Die Schieflage zwischen Arbeit und Freizeit ist für die meisten Menschen (von privilegierten Kreativen in ihren Traumberufen abgesehen) auch eine zwischen Fremdbestimmtheit und Freiheit, eine zwischen Geld und Lebenszeit. Dass sie als solche auch empfunden wird, können die euphemistischsten Unternehmensjargons nicht zudecken. Das erklärt auch, warum 2004 eine überqualifizierte Angestellte der Électricité de France mit ihrem gut gelaunten Ratgeber Bonjour paresse (auf Deutsch: Die Entdeckung der Faulheit. Von der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun) einen Bestseller landete. Allein in Frankreich verkaufte sich Corinne Maiers Büchlein, das zum "désengagement actif" aufruft, 250.000 Mal.

Ist der Life-Anteil der Work-Life-Balance schon Muße? Die Vokabeln seiner Kommerzialisierung - von "Chillen" bis "Wellness" - sprechen eine andere Sprache.

Muße impliziert Selbstgestaltung. Wie lustvoll es ist, das Nichtstun zu gestalten, demonstriert Pablo Neruda in seiner "Ode an die Faulheit", in der das lyrische Ich von der "Faulheit, hoch oben in den Pinien, nackt, schläfrig mit geblendeten Augen" am Schreiben einer Ode (nämlich einer an die Faulheit!) gehindert wird und stattdessen lieber Steinchen am Strand sammelt und Bienen aus Spinnennetzen befreit. Wobei aus diesen Tätigkeiten eben erst jene Ode entsteht, die zu schreiben aus Faulheit vermieden worden war. Genau das ist Muße!

Dörte Lyssewski

Dörte Lyssewski bei den Aufnahmen im ORF-Funkhaus

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Beinahe als ihr Gegenstück könnte man das Wort "Freizeit" bezeichnen, eine zugeteilte, (nicht wie bei Neruda, gestohlene) Zeit, eingefügt in die Struktur von Arbeit und Konsum, häufig selbst nicht mehr als Konsum. Muße ist unstrukturiert, leer. Im Nichtstun trifft man auf sich selbst. Wenn dabei Unbehagen entsteht, wird die Muße zur Langeweile. Es ist also die innere Haltung, die das Nichtstun zu einem Vergnügen machen, eine totale Gegenwart erzeugen, ja die Zeit aufheben kann - ein paradiesischer Zustand, der natürlich nicht lang andauert. Oder wie H. C. Artmann in Schon faul ich formuliert: "kaum daß ich mich bewegt war meine zeit vertan". In der Aktivität geht der ewige Moment verloren, die Zeit schreitet wieder voran, wir altern. Es ist die Faulheit, die vorm Faulen bewahrt.

Mittlerweile ist die Temperatur im Homeoffice um weitere Grade gestiegen, die mentalen Fähigkeiten erlahmen etwas. Würde man jetzt im Gras liegen, spielte das keine Rolle, denn da soll, laut Joachim Ringelnatz, "dein Denken nicht weiter reichen, als ein Grashüpferhupf" ("Sommerfrische"). Dorthin begebe ich mich jetzt.

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