
AP/BRUNO PRADO
Ö1 Schwerpunkt
200 Jahre Brasilien
Über Mythos und Realität von Lateinamerikas Riesen.
11. Oktober 2022, 12:00
Am 7. September 1822 sagt sich die größte Kolonie Amerikas vom Mutterland los. Die Unabhängigkeitswerdung sei unblutig verlaufen, sagt der Mythos - was so nicht stimmt. Doch was dem Land erspart bleibt, sind ein längerer Krieg und der Zerfall, wie er das Schicksal Spanisch-Amerikas war.
Zu den Sendungen
Radiokolleg | 5.-8. Sept. 2022
Brasilien - Der Riese Lateinamerikas.
Brasilien-Schwerpunkt
Die Vorgeschichte ist höchst ungewöhnlich. König Joao von Portugal flieht unter dem Schutz Englands, als Napoleons Truppen im Anmarsch sind. Der gesamte Hofstaat tritt 1807 eine vielwöchige Schiffsreise an, nach Salvador, dann Rio de Janeiro. Brasilien wird das neue Zentrum des Reichs.
Europas Rohstofflieferant
Das Land ist riesig, größer als die damaligen USA. Es dient Europa als Rohstofflieferant, mit wechselnden Leitprodukten: zunächst das namensgebende Brasilholz, dann Zucker, Häute, getrocknetes Fleisch, besonders begehrt sind Diamanten und Gold. Im 19. Jahrhundert kommt das schwarze Gold Kaffee dazu. Der Handel ist Portugal vorbehalten - doch nach der Ankunft des Königs wird das Monopol aufgehoben, der Warentausch blüht auf, Brasilien erstarkt wirtschaftlich.
Auch anderes ändert sich nach Ankunft des Hofstaats. Erste Zeitungen erscheinen, eine bürgerliche Gesellschaft entfaltet sich. Man diskutiert über die Aufklärung und die Menschenrechte, die Französische Revolution und ihre Schrecken - und die brasilianische Identität. Sie entsteht ironischerweise nicht zuletzt in Europa: unter Portugies:innen aus den Kolonien, die an der Universität Coimbra oder in Frankreich studieren und sich als etwas anderes, Eigenes wahrnehmen.
Maria Leopoldine & Pedro I.
Im fernen Wien werden die emanzipatorischen Bewegungen in Lateinamerika mit Argwohn beobachtet. Die republikanischen Tendenzen irritieren Klemens Metternich, den Strategen der Restauration. Er überredet Kaiser Franz I. von Österreich, seine vierte Tochter, Maria Leopoldine, mit dem (noch portugiesischen) Thronfolger Pedro I. in Rio de Janeiro zu verheiraten - um die Verbindung der Königshäuser, aber auch das monarchische Prinzip in Lateinamerika zu stärken.
Pedro hat nicht den besten Ruf, ungehobelt und jähzornig soll er sein. Trotzdem: Sein gemaltes Porträt hat es Leopoldine angetan, die Vernunftehe ist zunächst auch eine Liebesbeziehung.
Weg in die Unabhängigkeit
Die Österreicherin spielt eine aktive Rolle in einer kritischen Phase des Unabhängigkeitskampfes - aufseiten Brasiliens. Heute ist ein Stadtviertel im Norden von Rio de Janeiro nach ihr benannt, auch die dortige Sambaschule - und 2017 krönte die Telenovela "Novo Mundo" ihr Andenken. Die wissenschaftliche Expedition, die sie in die Neue Welt begleitet hat, führt zur Gründung eines Brasilianischen Museums in Wien; die Sammlungen sind heute der Stolz des Naturhistorischen Museums und des Weltmuseums Wien.

AFP/ERNESTO BENAVIDES
Wie weit Brasilien auf dem Weg in die Unabhängigkeit gelangt ist? Strukturen aus der Kolonialzeit prägen die Gesellschaft bis heute; die noch lang praktizierte Sklaverei entwurzelte große Teile der Bevölkerung. Nach einer Politik der Eigenständigkeit im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, unter anderem durch Stärkung der Industrie und Wertschöpfung im Inland, bringen die vergangenen Jahre eine Reprimarisierung der Wirtschaft: zurück zur klassischen Rolle eines Entwicklungslandes, als Lieferant von Agrarprodukten und Bodenschätzen - mit weitreichenden Konsequenzen für die indigene Bevölkerung, das Amazonasgebiet und das Weltklima.

Johann Kneihs in Brasilien.
CPT HORIZONT 3000/THOMAS BAUER