Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde in den 50er-Jahren: der legendäre Strohkoffer - Friedensreich Hundertwasser stehend

ORF/ERICH LESSING

Diagonal

Der Partykeller der Kunst

Für eine heiße Viertelstunde war der Strohkoffer Wiens spektakulärstes Künstlerlokal. In diesem Jahr feiert er seinen 70. Geburtstag.

Das Lokal mit dem seltsamen Namen befand sich im Souterrain der heutigen Loos-Bar an der Kärntner Straße. Man war jung und hatte kein Geld, deshalb benutzte man Schilf vom Neusiedler See, um die Wände zu tapezieren - und voilà, ein Kultlokal war geboren, das aber nur von 1952 bis 1953 existierte.

Es gab eine Konzession für 60 Leute, der Keller verfügte über drei Tische, ein Klavier und ein paar Hocker - das war’s. Trotzdem galt der Ort für eine heiße Viertelstunde als Hotspot einer Avantgarde, die in Wien wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes gerade erst dabei war, sich neu zu erfinden.

Qualtinger, Gulda, Mayröcker & Co.

Am Tag war der Strohkoffer die Galerie vom Wiener Art Club, der gegründet worden war, um die Nachkriegsavantgarde zwischen Phantastischem Realismus und Abstraktion zu versammeln. Nach Sonnenuntergang aber kamen die Kreaturen der Nacht und machten den Ort zum wildesten Partykeller der gerade wieder zum Leben erwachenden Metropole. Die Leute, die dort verkehrten, bildeten das Who’s who der unorthodoxen Wiener Kulturszene: Helmut Qualtinger, Friedrich Gulda, Gerhard Rühm, H. C. Artmann, Friederike Mayröcker und, und, und.

… eine Manege, wo man die wilden Tiere aus der Nähe betrachten konnte

Eine gewisse Verruchtheit war das Alleinstellungsmerkmal des Strohkoffers und lockte bald Zeitungen, Illustrierte und die Wochenschau, die ausgiebig berichteten. Das Aroma der Unmoral verbreitete sich in Windeseile und betäubte die Sinne eines sensationslüsternen Publikums. "Es war eine Manege, wo man die wilden Tiere aus der Nähe betrachten konnte", schrieb der Kunsthistoriker Alfred Schmeller, der damals Sekretär des Art Club war, später in einem Ausstellungskatalog. Der Strohkoffer wollte die existentialistische Aura von Jean-Paul Sartre und der Chansonsängerin Juliette Gréco beschwören und schaffte es immerhin, dass einmal Jean Cocteau über die enge Wendeltreppe in den Keller hinunterstieg.

Gegen den Zeitgeist

Unterm Strich war die Künstlervereinigung mitsamt Strohkoffer eine utopische Gegenveranstaltung zum restaurativen Zeitgeist der 1950er Jahre, als die Große Koalition unter der geistigen Führung der ÖVP dem Land einen sogenannten repräsentativen Kulturalismus verordnete, der sich vor allem auf Burg und Oper gründete - samt den dazugehörigen Stars, von denen viele, wie die Schauspielerin Paula Wessely und der Dirigent Herbert von Karajan, noch aus der Nazizeit belastet waren.

Dem sterbenslangweiligen, reaktionären politisch-kulturellen Programm des offiziellen Nachkriegsösterreich wollte die Strohkoffer-Szene eine Art Tanz auf dem Vulkan entgegensetzen: "Man spielte mit dem Tod, man spielte mit der Liebe, man spielte mit allem, man glaubte, man sei ein Held", so der Maler Friedensreich Hundertwasser, der zweimal im Art Club ausstellte, im Band "Strohkoffer" Gespräche von Maria Fialik.

Künstlerischer Hochdruckkompressor

Das Lokal war in der kurzen Zeit seines Bestehens eine Art künstlerischer Hochdruckkompressor, in dem sich alles zusammenballte, was mit der kulturellen Doktrin des konservativen Zeitgeistes Probleme hatte und von diesem auch abgelehnt wurde.

Doch allzu lang ging das Katakombenleben nicht gut: Nach der turbulenten Aufbruchstimmung der ersten Monate, in denen Lesungen, spontane Konzerte, Ausstellungseröffnungen etc. quasi im Tagestakt stattfanden, schwand die Antriebsenergie, und der ohnehin schon schäbige Keller wurde noch weiter runtergerockt. Statt Künstler:innen kamen jetzt vor allem Adabeis und Szene-Schlurfs. Im März 1953 zog der Vermieter, Max "Mäcki" Lersch, schließlich die Reißleine und sperrte die Hütte zu.

Der Strohkoffer aber ist bis heute ein Mythos, eine Chiffre für geistigen und künstlerischen Widerstand gegen die Reaktion geblieben.

Gestaltung

  • Thomas Mießgang