Von Johanna Hieblinger

Der Austauschschüler

I’m really sad, sagt der Austauschschüler.
Warum?, sagt die Mutter. Von Anfang an hat sie nur Deutsch mit ihm gesprochen.
Sommer ist über, sagt er. Sie ist die einzige, der er auf Deutsch antwortet.

Vorbei, korrigiert sie ihn.
Was ist vorbei, sagt er.
Vorbei ist über, sagt sie. Er sieht sie an.
Over, sagt sie, ich meine summer ist over. Vorbei.
Er legt den Kopf auf den Küchentisch. Die Arme lässt er seitlich nach unten hängen. Sie seufzt. Sie hat vergessen, was sie gerade machen wollte.
Magst du ein Eis?
Sie öffnet die Tür zum Gefrierfach.
Before dinner?, fragt er. Sie legt die eine Hand an die Lippen, mit der anderen deutet sie in Richtung der Küchentür.
Wir schweigen darüber.
Wirschweigendar-ÜBER, wiederholt er.

Der Sohn beschwert sich, dass der Austauschschüler Eis bekommt, und er nicht.
Du bekommst auch eines, sagt die Mutter, nach dem Essen.
Ob er die Kapitel gelernt hat, die sie ausgemacht haben, will sie wissen. Sie hat nicht wissen können, dass der Sohn in Mathematik durchfällt, dass er den ganzen Sommer für die Nachprüfung würde lernen müssen. Sie hat sie für den Austauschschüler angemeldet, bevor die Nachricht von der Klassenlehrerin kam.
Er darf alles, und ich darf nichts, beschwert sich der Sohn.
Er hat Heimweh, sieh ihn dir an, sagt sie. Der Austauschschüler liegt auf der Couch, die Füße angezogen, und sieht ins Leere.
Der will doch nur Aufmerksamkeit, sagt der Sohn und knallt die Tür zu seinem Zimmer zu.

Am ersten Abend hat die Mutter den Schulatlas des Sohnes auf den Küchentisch gelegt, und den Austauschschüler gefragt, wo er herkommt. Es wäre nicht eingezeichnet, hat der Austauschschüler auf Englisch erklärt, aber in der Nähe von hier. Er hat auf eine Stelle im Atlas gedeutet.
Little Rock, hat die Mutter auf Englisch geantwortet, Bill Clinton kommt von dort.
Dass seine Eltern Bill Clinton nicht mögen würden, hat der Austauschschüler gesagt.
Und du? Magst du Bill Clinton, hat die Mutter gefragt.
Er wäre da noch nicht geboren gewesen, hat der Austauschschüler geantwortet.
Und Hillary?, hat die Mutter gesagt.
Dass seine Eltern für die Republikaner stimmen würden, hat er gesagt, und die Mutter hat gesagt: Auch für Trump?
Dass Trump ein guter Präsident sei, dass die Wirtschaft nun endlich gut laufen würde, hat der Austauschschüler gesagt, dass man das im Ausland nicht verstehen würde.
Deshalb bist du hier, hat die Mutter gesagt, damit wir dich verstehen lernen, und du uns, oder nicht?
Sie hat streng geklungen, und der Austauschschüler hat geantwortet: Yes, Ma’am, und es hat ihr sofort leidgetan.
Was seine Eltern beruflich machen, hat die Mutter schnell gefragt. Dass seine Familie "Army people" wären, hat der Austauschschüler geantwortet, und dass auch er einmal zur Armee gehen würde, und dass er Deutsch lernen wollte, weil ihn die Armee dann nach Deutschland und nicht nach Afghanistan schicken würde.
Dann nur mehr Deutsch, hat die Mutter gesagt und ihn auf Deutsch aufgefordert seinen Heimatort in den Atlas zu zeichnen. Er hat sie fragend angesehen, doch dann hat sie das Wort Heimat wiederholt, und er hat mit dem Kugelschreiber ein Kreuz neben Little Rock gemacht.
Hier, hat er gesagt, und es hätte Deutsch sein können, oder Englisch.

Es ist die letzte Ferienwoche.
Was er von Österreich sehen möchte, fragt die Mutter den Austauschschüler, dass sie einen Ausflug machen könnten.
Die Berge aus Sound of Music, sagt der Austauschschüler.
Ist das überhaupt bei uns gedreht worden, oder in Kanada?, sagt die Mutter später zu ihrem Mann. Der Sohn muss für die Nachprüfung lernen, und ihr Mann muss seine Tochter treffen.
Nimm sie mit, sagt die Mutter.
Sie wird nicht wollen, sagt ihr Mann, aber seine Tochter sagt zu, und die Mutter kauft vier Zugtickets nach Salzburg.
Der Austauschschüler verhält sich anders als sonst. Auf der Zugfahrt zieht er seine Baseball-Kappe tief ins Gesicht und gibt einsilbige Antworten, genau wie die Tochter ihres Mannes.
Er fühlt sich nicht wohl, sagt die Mutter, als die beiden Jugendlichen in den Kiosk gehen, um Kaugummi zu kaufen.
Er will sie beeindrucken, sagt ihr Mann, siehst du doch.
Die Mutter hat eine Sound of Music Tour gebucht. Ein Touristenbus mit geöffneten Fenstern fährt sie durch die Stadt, die Lieder aus dem Film plärren aus Lautsprechern.

Gefällt es dir, ruft die Mutter gegen den Fahrtwind und gegen die Musik an. Der Austauschschüler nickt, als ginge ihn das alles nichts an, aber als der Bus etwas außerhalb der Stadt auf einem Hügel hält, und der Tour Guide Fotoopportuinity ruft, zieht der Austauschschüler einen Fotoapparat aus seinem Rucksack.
Nimmst du mein Foto?, sagt er, für meine Eltern?
Er nimmt die Baseball-Kappe ab und lächelt.
Am Abend im Gasthaus essen sie Schweinsbraten und Schnitzel. Ihr Mann bestellt Bier für alle.
Bei uns bist du alt genug dafür, sagt er zu dem Austauschschüler.
Was ist das?, sagt der Austauschschüler und fischt mit seiner Gabel einen toten Käfer aus dem Krautsalat. Die Mutter winkt nach dem Kellner, da schiebt der Austauschschüler die Gabel in den Mund. Die Mutter schreit auf, die Tochter ihres Mannes lacht.
Sie übernachten zu viert in einem Zimmer in der Jugendherberge. Es sind zwei Stockbetten in dem Raum, und der Austauschschüler und die Tochter ihres Mannes möchten unten schlafen.
Ist doch lustig, sagt ihr Mann, und klettert nach oben. Er wirft der Mutter von der anderen Seite des Zimmers eine Kusshand zu.
Die Mutter erwacht von Gekicher in dem Bett unter ihr. Sie bewegt sich nicht und versucht die Worte zu verstehen.
Ich mag sie, flüstert der Austauschschüler auf Englisch.
Warte, bis du sie besser kennenlernst, flüstert die Tochter ihres Mannes von der anderen Zimmerseite.

Am Abend vor der Nachprüfung dreht der Sohn durch.
Ich geh nicht hin, ruft er, ich falle sowieso durch.
Du hast den ganzen Sommer gelernt, sagt die Mutter, es macht keinen Sinn, nicht hinzugehen.
Was ist das Problem, sagt der Austauschschüler.
Er hat Angst, sagt die Mutter, Fear of failing.
Ninety percent is showing up, sagt der Austauschschüler.
Halt die Klappe, du Schwuchtel, schreit der Sohn und knallt seine Zimmertür zu.
Schwu…, sagt der Austauschschüler, was ist das?
Die Mutter steht vor der Zimmertür des Sohnes. Ihr Blick fällt auf die Sticker und Poster, die er darauf geklebt hat, die Bandnamen, die ihr nichts sagen, eine Karte mit der Aufschrift Bildung für alle, das Wort alle ist mit Kugelschreiber durchgestrichen, das Wort niemand ist oberhalb hingekritzelt worden. Es ist die windschiefe Schrift ihres Sohnes.

Fallen ist failing?, sagt der Austauschschüler zur Mutter, und zum ersten Mal wünscht sie sich, er wäre nicht da, obwohl sie weiß, dass es auch für ihn nicht leicht ist, er wird am nächsten Tag in einer neuen Klasse sitzen, er wird der Austauschschüler sein, und die Mutter kann es nicht einschätzen, ob er ein Außenseiter wird, oder beliebt. Die Chancen stehen siebzig dreißig, denkt sie, in die eine oder andere Richtung.
Abends im Bett blättert sie in den Unterlagen der Austauschorganisation. Unter der Überschrift Vorzeitige Beendigung durch die Gastfamilie liest sie, dass diese in Absprache mit der Organisation erfolgen muss und nur aus triftigen Gründen (z.B. Tod eines Angehörigen, Verlust der Arbeitsstelle, ungehöriges Verhalten des Kindes) zulässig ist. Bitte bedenken Sie, liest die Mutter, dass sie Verantwortung für die Entwicklung eines jungen Menschen übernommen haben, und dass ein vorzeitiger Abbruch auch einen Bruch in der Biografie des Kindes bedeutet.
Ihr Mann schaltet den Fernseher aus.
Was machst du da?, sagt er und klopft sich das Kopfkissen zurecht, wie er es jeden Abend tut. Ihm kann sie alles sagen, jeden noch so kleinlichen Gedanken kann sie mit ihm teilen, das weiß sie. Er ist anders als ihr erster Mann. Sie gibt ihm einen Kuss und legt die Papiere zur Seite.
Ich wollte nachsehen, ob wir für den ersten Schultag alles haben, sagt sie.

Sie hat nicht wissen können, dass der Sohn in Mathematik durchfällt. Im Halbjahreszeugnis hatte er einen Fünfer in Englisch, und einen Vierer in Mathematik. Die Englischlehrerin hat in der Sprechstunde gewarnt, dass der Sohn sehr weit abgeschlagen ist, dass diese Lücke ohne zusätzliche Förderung kaum zu schließen wäre. Die Mutter hat einen Nachhilfelehrer, einen Studenten der Anglistik engagiert. Wie haben Sie Ihre Liebe für die Sprache entdeckt, hat sie gefragt, als er nach einer Nachhilfestunde in ihrem Vorzimmer stand und sich die Schuhe zuband.
Ich war damals auf Austausch, hat der Anglistikstudent gesagt, beste Entscheidung meines Lebens.
Vom Informationsabend der Austauschorganisation hat die Mutter zwei Broschüren mitgebracht. Der Sohn war nicht da. Ihr Mann und seine Tochter saßen in der Küche und aßen vegetarische Lasagne.
Er übernachtet bei einem Freund, hat ihr Mann gesagt. Angeblich, hat seine Tochter gesagt und spöttisch den Mund verzogen. Die Mutter hat auf den leeren Sitzplatz geblickt, und die Handynummer des Sohnes gewählt.

Wo bist du?, hat sie gesagt, und der Sohn hat den Namen seines besten Freundes genannt. Ich will, dass du nachhause kommst, hat sie gesagt, morgen ist Schule. Sie saßen zu zweit vor dem Fernseher, als sie zuerst den Schlüssel im Türschloss und dann zwei Türen zuschlagen hörte, einmal die Wohnungstür und einmal die Zimmertür des Sohnes. War das wirklich notwendig, hat ihr Mann gesagt, er ist doch alt genug. Und wer trägt die Verantwortung? Wer?, hat die Mutter gesagt.
Am nächsten Tag hat sie die Broschüre Im Ausland Studieren auf dem Weg in die Arbeit in der Altpapiertonne entsorgt, und die zweite Broschüre beim Abendessen auf den Tisch gelegt. Ich stelle mir das lustig vor, ein Austauschschüler bei uns, hat sie zum Sohn und zu ihrem Mann gesagt, ihr nicht?

Die Englischlehrerin beschwert sich über den Austauschschüler. Er bringt Unruhe in die Klasse, sagt sie. Was hat er gemacht?, fragt die Mutter. Er erzählt, dass in seiner Familie Soldaten waren, sagt die Englischlehrerin, dass sie in Afghanistan gestorben sind. Ich kenne die Geschichte, sagt die Mutter, ein Cousin und ein Freund seines Bruders. Ich habe zwei afghanische Burschen in der Klasse, sagt die Englischlehrerin, ich kann sowas im Unterricht nicht gebrauchen.
Es ist die einzige Klasse, in der er mitreden kann, sagt die Mutter zu ihrem Mann, natürlich dreht er da auf.
Sie nippt an ihrem Weinglas. Der Austauschschüler liegt auf der Couch und starrt auf den Fernseher, der Sohn sitzt auf dem Boden, zappt durch die Programme. Er stoppt bei einer Hoppala-Sendung, privat gefilmte Videos von Menschen, die sich den Kopf stoßen, stürzen, auf die von oben Dinge fallen. Der Austauschschüler und der Sohn lachen. Der Austauschschüler sieht zum Sohn, er ist dankbar mit jemandem lachen zu können, denkt die Mutter, es macht sie traurig.

Es ist Samstagvormittag, und der Austauschschüler liegt auf der Couch, schaut ins Leere. Ist er depressiver geworden?, sagt die Mutter, vielleicht muss ich seine Eltern kontaktieren, vielleicht müssen wir ihn nachhause schicken. Ihm ist einfach langweilig, sagt ihr Mann und schlägt die Zeitung auf, der braucht Freunde, der braucht eine Aufgabe.
Kannst du mir heute helfen?
Die Mutter steht vor der Couch. Ich brauche deine Hilfe, sagt sie, Help me?
Sie fahren mit der Straßenbahn, sie steigen zweimal um. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie seit dem Schulanfang kaum etwas Gemeinsames außerhalb des Hauses unternommen haben. Der Austauschschüler hat aufgehört sich umzusehen. In den ersten Wochen hat er den Kopf nach hinten gedreht, bevor er sich in der Straßenbahn hingesetzt hat, als wollte er sich vergewissern, dass der Platz immer noch da ist. Am Anfang hat es die Mutter lustig, nach ein, zwei Wochen nervig gefunden. Als die Mutter sagt, Hier müssen wir aussteigen, steht der Austauschschüler auf und drückt den Halteknopf, ohne dass sie ihn darauf hinweist. Plötzlich sieht die Mutter den Sohn vor sich, wie er in einem fremden Land in einem Bus oder einem Zug oder sogar hinter dem Lenkrad eines Autos hätte sitzen können, wenn sie ihn ins Ausland geschickt hätte. Wie er nicht gemerkt hätte, dass ihm das Fremde nicht mehr fremd ist. Aber in diesem Moment ist der Sohn bei der Mathematiknachhilfe und danach wird er seine neue Freundin treffen, mit der er seit zwei Wochen geht. Der Sohn und seine neue Freundin wollen ins Hallenbad. Weil sie gern schwimmt, hat er auf die Nachfrage der Mutter geantwortet.

Ihre Kollegin ist schon da. Die Mutter hat den Austauschschüler angekündigt. Soll mir recht sein, hat die Kollegin gesagt. Sie sind für die Laufzeit des Stückes in einer Turnhalle eingemietet, zehn Samstage spielen sie zwei Vorstellungen hintereinander. Die Kollegin gibt dem Austauschschüler Anweisungen, wo er die Requisiten platzieren soll. Die Mutter kann sehen, dass er von ihrer Art überfordert ist, vielleicht auch davon, wie sie selbst die schweren Gegenstände anpackt. Die Kollegin gibt ihm einen schwarzen Ganzkörperanzug, wie ihn ein altmodischer Pantomime tragen würde. Er soll ihn beim Bühnenumbau während des Stückes tragen. Du fügst dich dann besser in die Geschichte ein, sagt sie auf Englisch. Du musst nicht, sagt die Mutter auf Deutsch, nur wenn du willst. Sie denkt an die Eltern des Austauschschülers. Als sie ihm von ihrer Arbeit erzählt hat, von den Stücken für Kinder, hat er gesagt, dass er seinen Eltern davon besser nichts sagen würde, dass seine Eltern Vorurteile hätten, was theater people betrifft. Sie hat sich geärgert, nicht über die Eltern, sondern über den Austauschschüler. So etwas sagt man doch nicht zu jemandem, den man kaum kennt, hat sie zu ihrem Mann gesagt. Ich glaube, er meint das nicht so, ich glaube, er vertraut dir, hat ihr Mann geantwortet.

In dem Stück geht es um Müll, und was passiert, wenn Menschen achtlos damit umgehen. In der Lieblingsszene der Mutter spielt sie einen weggeworfenen Zigarettenstummel, und die Kollegin spielt eine Taube, die diesen Zigarettenstummel aufpickt. Sie tragen klobige Kostüme, die nicht den realen Proportionen entsprechen und ringen auf der Bühne miteinander.
Ich bestehe aus Celluloseacetat, ruft die Mutter, ich bin pures Plastik. Die Kollegin ruft Gurr, Gurr, gutes Futter, und ihre Arme, die den überdimensionierten Schnabel darstellen, umfassen die Mutter. Hat das gut geschmeckt, ruft die Kollegin. Die beiden rangeln sich von der Bühne, hinter eine Sichtwand, die sie vom Publikum trennt. Die Mutter beobachtet den Austauschschüler, wie er in dem schwarzen enganliegenden Anzug die Taubenmagen-Kulisse in die Mitte der Bühne schiebt. Die Kontur seiner Boxershorts drückt sich durch den Anzug. Falls er weiter in diesem auftreten soll, braucht er andere Unterhosen. Sie denkt an die Eltern des Austauschschülers, was sie von theater people halten, und dass sie ihm keine Unterhosen kaufen kann. Er verschwindet aus ihrem Sichtfeld, die Kinder im Publikum lachen. Was ist, flüstert sie der Kollegin zu, die die andere Seite der Bühne im Blick hat. Er hat einen Handstand gemacht, sagt die Kollegin.
Am Ende der Vorstellung holen sie auch ihn auf die Bühne. Er springt in einen Handstand und läuft ein paar Schritte auf den Händen, bevor er zurück auf den Boden kippt. Die Kinder lachen wieder. Erst jetzt sieht die Mutter, dass der Anzug am Schritt aufgeplatzt ist, der gemusterte Stoff seiner Boxershorts quillt durch das Loch hervor.

Was kannst du noch, sagt die Kollegin zu dem Austauschschüler, als sie am darauffolgenden Samstag wieder in der Turnhalle sind. Sie weist ihn an, was er zwischen den unterschiedlichen Szenen tun soll. Nachdem er den Taubenmagen auf die Bühne schiebt, soll er mit mehreren Purzelbäumen davonrollen. Für den Abbau des gefällten Baumes soll er im Handstand auf die Bühne kommen und dann dort zusammenbrechen. Sie gibt ihm den schwarzen Anzug und ein eingeschweißtes Paket mit enganliegender Unterwäsche. Theater-Pants, sagt die Kollegin und deutet auf die Tür zur Männerumkleide.
Als die Kinder lachen, obwohl sein Anzug diesmal hält, spürt die Mutter, wie erleichtert sie ist. Am Ende des Stückes verbeugen sie sich, einander an den Händen haltend, zu dritt.

Die Tochter ihres Mannes ist zum Abendessen da. Der Sohn isst bei seiner neuen Freundin, der Austauschschüler sitzt, ohne zu fragen, auf seinem Platz. Er sitzt immer auf dem Platz des Sohnes, wenn der nicht da ist, und am Anfang kam es der Mutter kleinlich vor etwas zu sagen, und nun ist es zu spät. Manchmal überlegt sie sich Sätze. Bei uns haben alle ihren fixen Platz, oder Sitz bitte da, oder Das ist nicht dein Platz. Schon wenn der Sohn ankündigt, zum Abendessen wieder nicht zuhause zu sein, beginnen die Sätze im Kopf der Mutter zu kreisen, aber sie hat Angst wie sie klingen wird, wenn sie sie ausspricht und lässt es dann doch.
Wenn sie den Tisch deckt, stellt sie den Teller des Austauschschülers auf den richtigen Platz, und wenn sie zu essen beginnen, sitzt der Austauschschüler auf dem Platz des Sohnes, und kein Teller steht vor ihm. Er sagt nichts, und schaut so lange in die Luft, bis die Mutter oder ihr Mann ihm den Teller reichen. Einmal hat die Mutter den Teller so hart auf den Tisch aufgesetzt, dass er gesprungen ist. Sie hat sich sofort entschuldigt. Er ist mir aus der Hand gefallen, hat sie gesagt.
Fallen ist failing?, hat der Austauschschüler gefragt.
An diesem Abend fällt dem Austauschschüler nicht auf, dass er keinen Teller vor sich stehen hat, er erzählt vom Theaterspielen. Er hat den Moonwalk einstudiert, erzählt er und summt ein Michael Jackson Lied, er will die Schritte am kommenden Samstag einbauen. Sprich Deutsch, unterbricht die Mutter ihn und stellt den Teller vor ihn hin, wie willst du es sonst jemals lernen?
Der Austauschschüler sieht sie nicht an, er wendet sich an die Tochter ihres Mannes.
Komm und schau mich, sagt er.

Schön, dass du da bist, sagt die Mutter, als die Tochter ihres Mannes in der Turnhalle steht. Die Tochter ihres Mannes winkt dem Austauschschüler zu. Sie geht an den aufgestellten Stühlen vorbei und setzt sich vor der Sprossenwand im Schneidersitz auf den Fußboden.
Die Mutter fühlt sich nicht wohl. Sie verpasst einen Einsatz, sie vergisst einen Satz. Als sie ruft: „ich bin aus purem Plastik“ hört sie ein lautes, gackerndes Lachen aus der Richtung der Sprossenwand. Sie will nicht hinsehen, aber sieht, wie die Kinder im Publikum den Kopf wenden. Als der Austauschschüler vor der letzten Szene im Moonwalk über die Bühne schleicht, springt die Tochter ihres Mannes auf und läuft nach vorne. Sie beginnt im Takt zu klatschen, sie deutet den Kindern, die Hände ineinander zu schlagen. Der Austauschschüler wiederholt seine Schritte drei Mal so oft, wie sie ausgemacht hatten und hört erst auf, als die Kollegin in ihrem Müllsackkostüm auf die Bühne geht und mit ihrem Schlussmonolog beginnt.
Was wir heute tun, brüllt sie lauter als sonst, und die Kinder stellen das Klatschen ein.
Wir sind schon ein richtiges Familienunternehmen, sagt die Kollegin nach der Vorstellung, und die Mutter entschuldigt sich bei ihr.
Es ist ein schwieriges Alter, sagt sie. Die Tochter ihres Mannes läuft auf den Austauschschüler zu, sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Er errötet und greift nach der Baseball-Kappe, die er nicht aufhat.
Wir gehen Pizza essen, sagt die Tochter ihres Mannes, als die Mutter aus der Frauen-Umkleide kommt. Für einen Moment denkt die Mutter, dass sie mit Wir mitgemeint ist, aber bevor sie sich lächerlich machen kann, sieht sie den Austauschschüler, wie er, die Baseball-Kappe tief ins Gesicht gezogen, ein paar Schritte entfernt steht, und die Mutter nimmt einen Geldschein aus ihrer Tasche.
Viel Spaß, sagt sie.

Kurz nach Mitternacht hört die Mutter, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Sie hat sich vorgenommen, nicht zu sagen: Weißt du, wie spät es ist.
Sie bindet den Gürtel ihres Bademantels. Im Vorzimmer steht die Tochter ihres Mannes, nicht der Austauschschüler.
Kannst du kommen?, ruft sie und ist schon wieder aus der Wohnungstür.
Der Austauschschüler liegt auf dem Treppenabsatz zwischen erstem und zweitem Stock im Stiegenhaus. Ein Junge, den die Mutter nicht kennt, steht daneben und sagt: Er macht sich extra schwer. Der Austauschschüler hat die Augen geschlossen und wimmert.

Der Fuß ist gebrochen, stellen sie im Krankenhaus fest, es ist nur eine Platzwunde über dem Auge, keine Gehirnerschütterung, der Alkoholgehalt im Blut nicht so stark, dass der Magen ausgepumpt werden müsste. Das Herz der Mutter klopft, als sie die amerikanische Telefonnummer wählt. Sie stellt sie sich vor, dass sie die Mutter des Austauschschülers aus dem Schlaf reißt, dabei ist es dort erst früher Abend. Zwei knarzige, rasch aufeinanderfolgende Töne, immer wieder, die Mutter will schon auflegen, dann hört sie ein Knacken und Hello?

Am frühen Nachmittag telefoniert der Austauschschüler mit seinen Eltern. Mein Vater will dich sprechen, sagt er zur Mutter. Er wird uns verklagen, denkt die Mutter und sagt: Es tut mir so leid.
Wir entschuldigen uns bei Ihnen, sagt der Vater des Austauschschülers, dass er so viel Ärger macht.
Dass er einen Flug für den Austauschschüler buchen wird, sagt er auch.
Er ist weiterhin bei uns willkommen, sagt die Mutter.

Der Flug ist für den Tag vor Weihnachten geplant. In der Woche davor soll der Gips bereits wieder abgenommen werden. Ich will bleiben, sagt der Austauschschüler. Deine Eltern freuen sich auf dich, sagt die Mutter. Das Theater?, sagt der Austauschschüler und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Die Mutter denkt an die Turnhalle. Es gibt kein Theater, nicht im Frühling, sagt sie auf Englisch, die Förderung wurde nicht verlängert. Sprich Deutsch mit mir, sagt der Austauschschüler.

Am Sonntag vor der Abreise feiern sie ein vorgezogenes Weihnachtsfest. Die Mutter schenkt dem Austauschschüler eine Schneekugel mit einem Riesenrad darin und eine bilinguale Ausgabe von Mutter Courage und ihre Kinder.
Es ist ein bekanntes Theaterstück, sagt sie, es wird dir gefallen.
Die Tochter ihres Mannes gibt ihm einen Gutschein für Eine gemeinsame Aktivität deiner Wahl.
Wenn du zu Besuch kommst, sagt sie.
Natürlich kannst du uns besuchen kommen, sagt die Mutter.
Jederzeit, sagt ihr Mann.
Der Austauschschüler hat eine Megapackung Pralinen gekauft.
Für die ganze Familie, sagt er.
Der Sohn fehlt bei der Bescherung. Er müsse lernen, hat er gesagt, und seine Zimmertür geschlossen.
Am Abend gehen sie ins Theater. Als die Mutter während der Vorstellung zum Austauschschüler hinsieht, schaut er nicht auf die Bühne. Er hat den Blick auf eine der Logen gegenüber gerichtet. Ein Junge hat seinen Kopf auf der mit rotem Stoff eingefassten Brüstung abgelegt und klappt einen Operngucker bis zum Anschlag auf und wieder zu.

Am Tag des Abflugs müssen sie um vier Uhr morgens von der Wohnung aufbrechen. Ob er alles habe, fragt die Mutter und widersteht dem Impuls selbst das Zimmer nochmals zu kontrollieren.
Melde dich, wenn du angekommen bist, sagt sie, als sie am Flughafen an der Sicherheitskontrolle stehen, und vergiss nicht, dein Deutsch zu üben.
Yes, Ma’am, sagt der Austauschschüler und zieht die Baseball-Kappe tiefer ins Gesicht.
Alles Gute, sagt ihr Mann, und klopft ihm auf die Schulter.
Frohe Weihnachten, ruft die Mutter, als der Austauschschüler die Sicherheitsschleuse schon passiert hat.
Es wird gerade hell, als sie zurück in die Wohnung kommen. Die Mutter betritt das Zimmer des Austauschschülers. Sie erwartet etwas Liegengebliebenes zu finden, einen Kapuzenpullover im Schrank, eine einzelne Socke zwischen den Laken, ein Paar Hausschuhe unter dem Bett, aber das Zimmer ist aufgeräumt. Im Papierkorb liegen Schulunterlagen und der aufgeschnittene Gips mit den Unterschriften, den der Austauschschüler aus dem Krankenhaus mitnehmen wollte. Die Mutter sortiert das Altpapier in einen Stapel, als sie den Gips nimmt, sieht sie darunter auf dem Boden des Papierkorbs die Schneekugel mit dem Riesenrad. Es ist kein Wasser darin, auf der Hinterseite ist ein Sprung.

Sie machen einen Familienurlaub, als die Nachrichtensprecherin vom amerikanischen Truppenabzug aus Afghanistan berichtet. Die Mutter hat ein Apartment mit drei Schlafzimmern und Seeblick gemietet, der Sohn ist mit seiner neuen Freundin gekommen, die Tochter ihres Mannes ist frisch verliebt, schreibt Nachrichten auf dem Handy und spricht davon, schon früher in die Stadt zurückzufahren. Sie sitzen vor dem Fernseher und sehen die Bilder, die sich drängenden Menschen, die halbleeren Flugzeuge, die Zivilisten und Soldaten und Terroristen, die bei Anschlägen in die Luft gesprengt werden.
Sie lassen die Frauen im Stich, sagt die Mutter.
Sie können nicht ewig dort unten bleiben, sagt ihr Mann. Seine Tochter fragt nach dem Austauschschüler.
Weiß jemand etwas von ihm, fragt sie, ist er wirklich zur Armee?
Von wem redet ihr?, sagt die neue Freundin des Sohnes.
Unser Austauschschüler, sagt der Sohn, er wollte Soldat werden und in Afghanistan kämpfen.
Das wollte er nicht, sagt die Mutter, er wollte Deutsch lernen, damit er nicht nach Afghanistan muss.
Muss ich das verstehen?, sagt die neue Freundin.
Warum habt ihr ihn nachhause geschickt, sagt der Sohn, beim ersten Fehler wurde er nachhause geschickt.
Wir haben ihn nicht nachhause geschickt, sagt die Mutter.
Seine Eltern haben das damals so bestimmt, sagt ihr Mann, war doch so, oder?

Es war besser für ihn, sagt die Mutter, er war noch nicht reif genug.
Die Tochter ihres Mannes wechselt den Sender.
Ich dachte, du mochtest ihn, sagt sie, er hat dich sehr gern gehabt.
Während ihre Familie einen Krimi sieht und sich über die schlechten Schauspieler lustig macht, tippt die Mutter den Namen des Austauschschülers in die Internet-Suchmaschine. Der Name ist häufig, sie klickt auf die Bildersuche, sie versucht, den Austauschschüler in den angezeigten Gesichtern zu entdecken. Als sie ihn nicht findet, tippt sie das Wort Soldat hinter den Namen. Sie hat Angst vor Todesanzeigen, aber sie findet nichts, nichts was auf ihn passt. Sie will das Handy weglegen, da fällt ihr das Plakat ein. Die Mutter hat nach der zweiten Vorstellung in der Turnhalle den Namen des Austauschschülers auf das Theaterplakat geschrieben, Special Guest Doppelpunkt sein Vor- und Nachname. Freust du dich?, hat sie ihn gefragt. Du hast ein i vergessen, hat er gesagt und auf das Plakat gedeutet, und sie hat sich gewundert, aber ein i zwischen zwei Buchstaben seines Namens gesetzt, und er hat laut gelacht, es klang, als würde er sie auslachen. I wie Inglisch, hat er gesagt.

Übersicht

Gesund schreiben