Unbebautes Grundstück

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Roman von Kristine Bilkau

"Nebenan" - Das unheimliche Landleben

Weite Felder statt enge Straßenschluchten, das Haus mit Garten statt der Altbauwohnung - das Landleben hat in den letzten Jahren wieder an Attraktivität gewonnen, auch für die Literatur und dort nicht zuletzt durch Julie Zehs Erfolge "Unterleuten" und "Über Menschen". Auch der neue Roman von Kristine Bilkau spielt auf dem Land, das Besondere an ihrem Blick auf die ländliche Gesellschaft: Sie hat für ihr Buch Anleihen am viktorianischen Schauerroman genommen.

Das Dorf in Kristine Bilkaus Roman hat zwar keinen Namen, aber eine wechselvolle Biografie. So wurde es Ende des 19. Jahrhunderts beim Bau des Nord-Ostsee-Kanals in zwei Hälften geteilt. Daneben gibt es landschaftliche Idylle, im nebelschweren Herbst liegt aber auch eine unheimliche Atmosphäre über der Landschaft.

An den Beginn ihres Buches hat Kristine Bilkau ein Zitat der deutschen Lyrikerin Sarah Kirsch gesetzt, "in der schimmernden Nacht unter den Nebelgespenstern tanzte mein Luftgeist", heißt es da. "Sarah Kirsch hat in der Nähe des Nord-Ostsee-Kanals gewohnt", erzählt Bilkau, "und fasst in ihren Texten die verschiedenen Stimmungen dieser Landschaft gut zusammen: dieses Unheimliche, dieses Schöne und auch diesen historischen Aspekt, denn der Kanal wurde ja in der Kaiserzeit gegraben und war auch ein nationalistisches Symbol."

Blaues Buchcover mit einem weißen und schwarzen Postit

LUCHTERHAND

Gebrochene Nostalgie

Hier leben Julia, die Töpferin ist, und ihr Mann Chris. Noch nicht lange allerdings, erst vor einem halben Jahr haben sie der Stadt den Rücken gekehrt und sich hier ein Haus gekauft. Voller romantischer Vorstellungen, von denen nicht alle eingelöst wurden. Man lernt die Menschen aus dem Ort viel langsamer kennen, als ich gedacht hätte, sagt Chris an einer Stelle im Buch.

Die beiden anderen Hauptfiguren sind die um eine Generation ältere Astrid, eine Ärztin, und ihr Mann Andreas, ein pensionierten Geschichtelehrer, mit dem sie seit jeher in der nahen Kreisstadt lebt. "Die Sehnsüchte von Julia sind ja, wenn man es hart sagen will, auf eine biedere Art nostalgisch", sagt Kristine Bilkau über eine ihrer Protagonistinnen. "Astrid wiederum konterkariert das ein bisschen, weil sie in ihrer Kleinstadt und ihrer Umgebung die Brüche sieht, und Andreas wiederum, Astrids Mann, sieht, dass so viele Gewissheiten abhandengekommen sind und die Solidaritäten aus den Nachkriegsjahrzehnten aufgekündigt worden sind. Und all das spiegelt, ergänzt und bricht sich auch ein bisschen gegenseitig."

Der scharfe Blick des Unheimlichen

Weil die Kapitel zwischen Julia und Astrid und damit zwischen Dorf und Kreisstadt wechseln, sei "Nebenan" auch nicht der typische Dorfroman, sagt Kristine Bilkau. Und sicher auch deshalb nicht, weil sie das Denken ihrer Figuren, um eine unheimliche Leerstelle kreisen lässt. Eine Familie aus dem Dorf ist verschwunden, im Haus steht allerdings noch alles so da, als wären die Eltern nur in der Arbeit und die Kinder in der Schule.

Keiner weiß etwas über ihren Verbleib, wie ein Schleier liegt das Rätsel über dem Dorf. Nein, widerspricht Kristine Bilkau, eher wie ein Brennglas: "Viele sagen ja, das Unheimliche wirft einen Schatten über die Dinge oder lässt sie verschwimmen, und ich habe das genau andersrum empfunden: ich hatte den Eindruck, durch das Unheimliche und unheimliche Begebenheiten schärft sich der Blick der Figuren auf ihr Umfeld und auf ihre eigene Position darin."

Jahr der Abgrenzung

Der geschärfte Blick fällt auf eine ganz bestimmte Zeit. Das Geschehen spiele im Jahr 2017, erzählt Kristine Bilkau, dem ersten Amtsjahr von Donald Trump und gleichzeitig dem Jahr, in dem der Brexit eingeleitet wurde: "Für mich war das ein interessantes Jahr, um mich noch einmal mit dem sozialen Miteinander im Kleinen zu beschäftigen, weil es durch diese eher anti-solidarischen Entwicklungen eher um Abgrenzung ging als um Annäherung."

Das gesellschaftliche Unwohlsein trifft sich im Roman mit privaten Krisen der Figuren. Der sehnliche Kinderwunsch von Julia geht nicht in Erfüllung, gerade hat sie nach einer künstlichen Befruchtung wieder das Kind verloren. Bei Astrid wiederum sind es anonyme Drohbriefe, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen.

Biedermeierliche Gegenwart

Auch da wieder das unheimliche Moment, das sich Kristine Bilkau, wie sie erzählt, erst langsam erschreiben musste: "Während ich schreibe, strecke ich meine Fühler aus, hin zu anderen Autorinnen und Autoren und Büchern, die dann eine Art Resonanzräume für mich werden, wo ich also meinen eigenen Text noch einmal auf den Prüfstand stellen, oder auch weiterentwickeln kann, und ich bin dabei bei Schauergeschichten aus dem 19. Jahrhundert gelandet."

Kristine Bilkaus Griff zu viktorianischen oder im Biedermeier geschriebenen Schauerromanen war dabei kein beliebiger, denn den Rückzug in die eigenen vier Wände, wie er damals als Grundstimmung in der Gesellschaft vorherrschte, sei dem Zeitgeist unserer Gegenwart nicht unähnlich: "Die erschienen mir als ein angemessenes Mittel, da in unserer Gegenwart diese häusliche Domäne auch wieder extrem idealisiert wird."

Mit Schauer auf die Shortlist

Kristine Bilkau hat ihren Roman "Nebenan" im Präsens geschrieben, die Sätze sind entweder kurz oder klar strukturiert und schwingen im Rhythmus der Gegenwart. Dabei bricht die Stimmung oft von Absatz zu Absatz, unheimlich ist das und unheimlich schön zu lesen, wenn der Schauer eine solche Klarheit hat. Der Jury für den Deutschen Buchpreis hat dieser ungewöhnliche Ansatz auch gefallen: sie hat "Nebenan" auf die Shortlist gesetzt. Die Bekanntgabe des heurigen Gewinners und die Verleihung des Preises findet am 17. Oktober in Frankfurt im Vorfeld der Buchmesse statt.

Service

Kristine Bilkau, "Nebenan", Roman, Luchterhand

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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