Ilija Trojanow

APA/FRANZ NEUMAYR

Literatur

Ilija Trojanow: "Mehrsprachigkeit"

Dieser Text entstand für Ö1 im Rahmen der Sendung "Literatur am Feiertag" am 26. Oktober 2022.

Die ersten sechs Jahre meines Lebens habe ich nur Bulgarisch gesprochen. Dann das Flüchtlingslager in der Nähe von Triest. Eine ehemalige Kaserne, ein großer Raum, unterteilt durch Vorhänge auf Wäscheleinen, und hinter jedem Vorhang eine andere Sprache. Auf einmal waren meine Eltern und ich die einzigen, die Bulgarisch gesprochen haben. Die Selbstverständlichkeit und Zuversicht des eigenen Spracherwerbs schwinden anhand der Unverständlichkeit, die einen umgibt. Kurz darauf, in Deutschland, im Auffanglager Zirndorf, zunächst eine ähnliche Erfahrung, doch schon bald wurde mir klar, jenseits der engen Zimmer gab es nur eine Sprache, das Deutsche, und das musste ich lernen, was ich getan hätte, wäre mein Vater nicht bald darauf nach Kenia versetzt worden, so dass ich ins Englische weitergestoßen wurde, um erst mit zwölf, nach unserer Rückkehr, Deutsch richtig zu lernen, in Essen (of all places) … und hier haben wir schon das Phänomen oder Problem: der Ausdruck of all places fällt mir auf Englisch ein, die verschiedenen Sprachen bilden in meinem Kopf eine enge Wortgemeinschaft und füttern sich gegenseitig, wenn sie sich nicht gerade die kalte Schulter zeigen (im Englischen "gibt" man sich hingegen a cold shoulder, bei solchen Sachen komme ich oft durcheinander). Daher mein Gefühl, dass ich (und andere mit ähnlicher Biografie) in der gewählten Literatursprache mehrsprachig schreiben.

So betrachtet wäre meine einzige Muttersprache die Mehrsprachigkeit, denn das Bulgarische ist längst verkümmert (aus anspruchsvoller Sicht), das Deutsche ein scharfes Instrument, bei dem ich weiterhin gelegentlich in die Bedienungsanleitung blicken muss, das Englische ein brauchbarer Ersatz für viele Lebenslagen, aber nicht für das Entscheidende, das Schreiben von Romanen, und die anderen Sprachen nur Wortfunkenlieferanten. Beim Zählen lässt es sich gut aufzeigen. Ich mache immer noch Fehler, wenn ich mit den Gedanken woanders bin, sage zweiundsechzig statt sechsundzwanzig, muss kurz nachdenken, wenn jemand "Viertel vier" sagt, komme durcheinander bei den falschen Freunden "Billionen" und billions. Kleinigkeiten, gewiss, aber sie verursachen ein Gefühl der Zehenspitzigkeit, eine Habachtstellung (wie ein Stuhl, dessen Lehne sich einem in den Rücken bohrt, wenn man sich zu sehr entspannt).

Trotzdem fehlt mir eine signifikante Anwesenheit dieser Mehrsprachigkeit in meinem Deutsch. Am liebsten würde ich ja das Gemisch, das ich von Haus aus rede – Basso continuo auf Deutsch, elegante Phrasen und komplexe Ornamentierungen auf Bulgarisch, Sprichwörter und idiomatische Wendungen auf Englisch und einzelne Wörter auf Französisch und Spanisch, auf Kisuaheli und Hindi – auch als Literatur abbilden, aber das geht nicht, diese Tür hat "Finnegans Wake" zugeschlagen. Also kämpfe ich immer mit dem rechten Maß an Fremd-Sprache in meinem Deutsch. Ein Teil von mir sehnt sich nach einer Pidginisierung (bei "Der Weltensammler" habe ich mal ein ganzes Kapitel in einem "Kolonial-Deutsch" geschrieben, inspiriert von einem Büchlein eines Sisal-Plantagenbesitzers aus Deutsch-Ostafrika, das ich zufällig in der Bayerischen Staatsbibliothek in München gefunden habe, aber es funktionierte nicht, und zwar beim Lesen nicht).

Aus all diesen persönlichen Erfahrungen heraus wäre ich dafür, dass wir überall in der Gesellschaft Mehrsprachigkeit etablieren, sei es in den Kindergärten, Schulen, Universitäten, sei es als selbstverständliche kulturelle und ethische Aufgabe von Europäerinnen, eine der Nachbarschaftssprachen zu erlernen. Mich hat zuletzt sehr betrübt, in drei verschiedenen, traditionell zweisprachigen Regionen zu erfahren, dass die Mehrsprachigkeit eher abnimmt, im Elsass, in Südtirol und im slowenischen Prekmurje, wo die Älteren sogar mit drei Sprachen (neben Slowenisch Ungarisch und Deutsch) gelebt haben. Sollte Mehrsprachigkeit nicht der angestrebte Normalzustand sein? Oder überschätze ich ihren gesellschaftlichen Segen?

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