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"Spielräume" Wochenthema
Bob Dylan und die Frage: Was ist ein guter Song?
In seinem neuen Buch "Die Philosophie des modernen Songs" folgt der Musiker und Literaturnobelpreisträger Bob Dylan der Spur der populären Musik. Er beschreibt darin seine persönlichen Gefühle zu diesen Stücken und liefert mannigfaches Hintergrundwissen. Die Spielräume widmen den Songs in diesem Buch eine ganze Woche und spielen auch, was man vom Meister noch gerne beschrieben gehabt hätte.
29. Dezember 2022, 02:00
Lediglich vier Interpretinnen haben in es in Bob Dylans jüngst erschienenes Buch eine Abhandlung über 66 seiner Lieblingssongs, geschafft. Ein beschämender Fakt in einem Kompendium, das sich auf die Zeit der 1950er bis 1970er Jahre konzentriert und sich eben "Die Philosophie des modernen Songs" auf die Fahnen heftet.
Spielräume | DI | 29 11 2022
Johann Kneihs über Lücken, eigentlich gewaltigen Breschen, in Dylans "Philosophie des modernen Songs".
Spielräume | MI 30 11 2022
"Der Song 'Ball of Confusion' ist wie eine alte Radiosendung, bei der man sich vorstellt, was man hört, und es dadurch zu einer eindringlicheren Erfahrung wird“, Mirjam Jessa zitiert Bob Dylan.
Cher, Judy Garland, Nina Simone und Rosemary Clooney sind die vier Auserwählten, die allerdings nicht stellvertretend für die vielen anderen allein an vorderster Front stehen können. Stimmen und Inspiration von Musikerinnen wie beispielsweise Joni Mitchell, Aretha Franklin oder Patti Smith fehlen in dem Buch.
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Den Song kann jeder singen, der das Gefühl hat, zu einer geliebten Person nicht durchzudringen. Aber er hat durch Ninas verhaltenen, herausfordernden Vortragsstil, den einige als subtiles Plädoyer für soziale Gerechtigkeit auffassten, darüber hinaus Bedeutung erlangt.
Es ist ganz leicht, in der Zusammenstellung der 66 Songs in Bob Dylans "Philosophie des modernen Songs" Lücken zu identifizieren. Neben dem fast völligen Fehlen von Frauen und neben der Einschränkung auf wenige Jahrzehnte, fällt auch die geographische, kulturelle, sprachliche Verteilung auf. Beinahe alle Beispiele kommen aus Nordamerika, dazu eine Handvoll aus dem Vereinten Königreich. Ein einziges nicht-englischsprachiges Lied findet sich auf der Liste: Domenico Modugnos immergrünes (oder immer blaues) "Volare".
Andererseits: Ein Anspruch auf Vollständigkeit entspräche kaum dem Charakter des Buchs und träfe sicher auch nicht die Intention des Autors. Wie langweilig wäre das auch: eine nach verschiedenen Kriterien ausgewogene Bestenliste, wie sie ja bereits existieren. Und was gäbe es dann zu entdecken?
Es geht dem Meister der Worte wohl eher um das, was Songs in einem bewirken. Und um die Möglichkeit, das in Texte zu fassen - "Philosophie" also als demonstrierte, praktische Poetik. In diesem Sinn sind die "Spielräume" anlässlich des Bob-Dylan-Buchs auch ein Versuch über die Poetik von Songs und des Schreibens über Musik und Lieder - zum Kontrast und Dialog mit Beispielen aus der Gegenwart, vorzugsweise nicht-englischsprachig und außeramerikanisch.
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Der Song ist eine Verführung auf Italienisch und beginnt mit einer kleinen Improvisation auf dem Klavier, gefolgt von Domenicos in Orgelklänge getauchtem Gesang, der bis zu dem bekannten Refrain führt.
Mit großer Empathie widmet sich Bob Dylan in "Die Philosophie des modernen Songs" den Interpreten der ausgewählten Songs, die nur manchmal auch die Autoren der Lieder sind. Die Beschreibungen sind so oft so einfühlsam, dass der Eindruck entsteht, er identifiziere sich mit jedem einzelnen. Und so kann zwischen Liedern unterschieden werden, die erst durch ihre Interpretation zu einem großen Song geworden sind, und jenen, die über jede Auslegung erhaben sind.
Es sind berührende Schicksale, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen, wie jenes von Bobby Darin oder die Geschichte vom tauben, hoch emotionalen Johnny Ray. Neben den üblichen Verdächtigen wird man auf viele Interpreten und Songschreiber aufmerksam, die einem bisher nicht geläufig waren, darunter einige -für mich - lohnende Entdeckungen wie Charlie Poole.
"In 'Mack the Knife' wird so lange moduliert, bis man denkt, gleich hebt er ab. Der Song ist eine Moritat, und Darins Gesang ist dabei mindestens so gut wie und wahrscheinlich sogar besser als der aller anderen. Er ist auf der Höhe seiner Möglichkeiten", schreibt Bob Dylan.
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Die Welt hatte nur Platz für einen Frank. Niemand sonst konnte auf diesem Weg folgen. Tony nicht, Dean nicht und Bobby Darin schon gar nicht.
Richtige Überraschungen gibt es in Dylans Buch wenige. Der Blick über den Tellerrand, er ist ausgeblieben. Der gute alte Bob, er hat in seinem Buch "Philosophie des modernen Songs" eine Vielzahl von Arbeiten aus der guten alten Zeit versammelt. Seiner guten alten Zeit, wohlgemerkt. Songs, an denen heute oft nicht mehr viel modern klingt, nicht nur weil sie großteils aus den 1950er und 1960er Jahren stammen.
Bei Ray Charles' "I Got a Woman" von 1954 kann man immerhin die charismatische Stimme und das Tenorsaxofon-Solo von David "Fathead" Newman gelten lassen, kaum aber den banalen, von einem überkommenen Rollenverständnis geprägten Text. Auch die merkwürdig "zickige" Version von Mose Allisons "Everybody Cryin' Mercy" von 1968 hinterlässt Fragezeichen.
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Na klar, in der Anfangszeit war alles rosig. Liebe Tag und Nacht, nie wurde gemurrt oder gejammert. Aber das lässt schnell nach. Und dann bleibt nur noch die lange Fahrt. Die Sehnsucht schwindet, aber der Verkehr bleibt für immer.
Bob Dylan ist ein Fan der "Blumen des Bösen" von Baudelaire, Nobelpreisträger für Literatur und einer der größten Songwriter der Musikgeschichte. Seine eigenen Songs sind biblisch abgründig. Fast 15 Minuten braucht er, bis die "Titanic" endlich untergeht. Und so ziehen auch durch Bob Dylans neues Buch zahlreiche Bösewichte, Katastrophen, Weltuntergänge und Verbrecher. "Nichts wie raus aus diesem Garten des Bösen" singt etwa Jimmy Wages verzweifelt und vergeblich. Diese gesungene Unmöglichkeit, die Hölle zu verlassen, ist für Dylan eines der faszinierendes Stücke Musikgeschichte, das geradezu bettelt, vom Großmeister analysiert zu werden.
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Das ist eine Ballade über die gemarterte Seele, den ketzerischen Cowboy, den Fürsten der Protestanten, der sich einfach so im Handumdrehen in ein tanzendes Mädchen mit seidenweicher Haut verliebt. Eigentlich sagt der Song kaum etwas Verständliches aus, aber wenn man andererseits die Zeichen, Symbole und Schemen dazunimmt, sagt er kaum etwas, das man nicht versteht.
Gestaltung: Astrid Schwarz, Andreas Felber, Johann Kneihs, Mirjam Jessa, Wolfgang Schlag
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Illustrationen und Zitate aus:
Bob Dylan, "Die Philosophie des modernen Songs", aus dem Amerikanischen von Conny Lösch, C.H. Beck