Joseph Brodsky

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Du holde Kunst

Joseph Brodsky - Erforscher der Zeit

Philipp Hauß liest Gedichte des Literaturnobelpreisträgers.

"Erlaubte meinen Stimmbändern alles, bloß keine Klagen", heißt es in einem lyrischen Resümee, das Joseph Brodsky zu seinem 40. Geburtstag schrieb. Gründe zu klagen hätte es im Leben des Dichters genug gegeben. 1964 in einem politischen Prozess wegen "Parasitentums" verurteilt, lernte er Verbannung und Zwangsarbeit kennen; 1972 aus der UdSSR ausgewiesen, war er gezwungen, die Sprache zu wechseln (wenn auch nicht in der Lyrik), herzkrank sah er einem frühen Tod entgegen. Und tatsächlich: Es findet sich in seiner Lyrik nichts persönlich Bekenntnishaftes; der Blick auf die Existenz ist ein distanzierter. Die Zeit mit ihrem Abbild, dem Wasser, und die Leere mit ihrem "voreiszeitlichen Recht auf Wohnraum" sind die konstituierenden und alles durchdringenden Größen dieser Dichtung.

Doch bricht sie mit jeglichem Pathos. Das Unbezwingbare des Raums wird nicht mit kosmischen Metaphern beschrieben, sondern mit dem Zustand, der in einem Zimmer herrscht, bevor die Tür geöffnet wird ("der usurpierte Raum / verzichtet niemals auf seine / Unbewohnbarkeit"). Das Wasser, das in ewigem Kreislauf die Körper durchwandert, wird in einem Trinkglas auf seine unmittelbare Zukunft hin angesprochen. Ironie grundiert Brodskys Umgang mit der Sterblichkeit und den sie umgebenden Ewigkeiten. Mitunter laufen Gedichte, die den Tod zum Thema haben, zu einer paradoxen Vitalität auf. Wie in "Nur die Asche weiß …", in dem das Aas zur "Apotheose der Teilchen" wird.

Der Text hat das Leben zu ersetzen

Den umgekehrten Weg beschreitet das Liebesgedicht "Für M. B." Hier trifft die Liebe nicht auf die Sinnesorgane, sondern lässt diese erst entstehen ("Du warst die Luft / die die Ohrmuschel nächtens / zur Linken, zur Rechten / flüsternd mir schuf").

Mit Realismus im Sinne einer Nachbildung des Lebens hat diese Dichtung nichts zu schaffen. Der Text, schreibt Brodsky einmal, habe das Leben zu ersetzen, weil er eine deutlichere Wirklichkeit erzeuge als dieses selbst. Weniger am Biografischen denn an der Literatur entzündet sich daher Brodskys Dichtung. Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa, Robert Frost, Anna Achmatowa und W. H. Auden listet er in seiner Nobelpreisrede 1987 auf. Aber auch Ovid, Dante und John Donne sind Bezugspunkte seiner Lyrik. Einflussangst sei »eine Angst - und Krankheit - des Barbaren, nicht der Kultur, die ganz Kontinuität ist, ganz Echo«, schreibt Brodsky in einem Essay über Zwetajewa. Dieser Kontinuität oder "Weltpoesie", wie sie Mandelstam nannte, will Brodsky angehören.

Joseph Brodsky

Der 1940 in Leningrad geborene und 1996 in New York gestorbene russischamerikanische Dichter Joseph Brodsky wurde 1987 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet

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"Ein zuweilen schnoddriger Mix"

Ralph Dutli, Übersetzer und Herausgeber von Brodsky-Bänden in deutscher Sprache, schreibt: "Brodsky (…) verknüpfte antike Sujets (…) mit der Nervosität der angloamerikanischen Dichtung und den besten Mustern der russischen Moderne - in einem zuweilen schnoddrigen Mix aus Alltagsslang, philosophischem Parlando und stupender Klassizität." Antiutopisch, desillusioniert und sinnlich werden hier die großen Bögen zwischen Raum und Zeit, Zugehörigkeit und Exil, Liebe und Tod gespannt.

Ein Fleck auf der, politisch sonst weißen Weste, des Dichters: Sein Schmähgedicht "Auf die Unabhängigkeit der Ukraine", geschrieben unter dem Eindruck des Zerfalls der - eigentlich verhassten - Sowjetunion in den frühen 1990ern, zweimal öffentlich gelesen, aber nie gedruckt, wird seit 2014 in Russland als propagandistische Munition verwendet und verstört die literarische Welt.

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