Thomas Wally am Klavier im Wiener Funkhaus

Thomas Wally - ORF/JOSEPH SCHIMMER

Neue Musik auf der Couch

Brian Ferneyhough: Fourth String Quartet

Streichquartett und Sopran: So wie in Schönbergs zweitem Streichquartett, in welchem Schönberg den Sprung in die Atonalität wagte, sind bei Ferneyhoughs viertem Streichquartett zwei Sätze keine reinen Streichquartettkompositionen, sondern erweitern den traditionellen Streicherapparat um eine Gesangsstimme.

Während bei Schönberg der Sopran in den letzten beiden Sätzen mit Lyrik von Stefan George hinzutritt, sind es bei Brian Ferneyhough die Sätze 2 und 4, in welchen eine Sopranstimme einen bestehenden Text zum Klingen bringt. Dieser Text ist allerdings kein herkömmlicher Text: Es handelt sich um die "Words and Ends from Ez" von Jackson MacLow, welche eine Dekonstruktion der "Pisan Cantos" von Ezra Pound darstellen.

Sind im zweiten Satz der Sopran und das Quartett extrem eng aneinander gekoppelt, so gibt es im vierten Satz nur eine kurze Überlappung der Gesangsstimme und des Streichquartettsatzes. Ferneyhough spricht von "mutually incompatible discourses", von miteinander unvereinbaren Diskursen. Überhaupt ist die formale Anlage höchst eigenwillig. In einem relativ kurzen Eröffnungssatz dient als roter Faden ein musikalisches Element, welches mit einer bestimmten Spieltechnik, die nicht unverwandt mit jener der Bariolage ist, erzeugt wird: So erscheint, beim ersten Mal, dieses Element als ein rasches Tremolo zwischen ein und derselben Note, welche auf zwei verschiedenen Saiten gespielt wird. Dieses Element, eingebettet in ein komplexes Gewebe, erfährt im ersten Satz in insgesamt neun Phasen eine variative Fortführung.

Höreindruck weniger komplex als Partitur

Im zweiten Satz ist die formale Zerstückeltheit auffallend; die Phasentrennung im ersten Satz wächst sich aus zu Fermaten, die kürzere "moments musicaux" voneinander trennen. Der dritte Satz, wieder ohne Sopran, ist nur für wenige Augenblicke eine Streichquartettkomposition, sondern enthält zahlreiche Solo, Duo- und Triopassagen. Ferneyhough spricht davon, dass für diesen Satz zunächst eine begrenzte Zahl an höchst charakteristischen Figurtypen ausgesucht wurde; diese werden zwar nicht ineinander transformiert, können aber einander beeinflussen. Im letzten Satz tritt der Sopran wieder hinzu: im Gegensatz zum zweiten Satz ist aber die Kopplung der Gesangsstimme und des Streichquartettapparats auf ein Minimum beschränkt, es kommt nur für wenige Takte zur Überlappung.

Rund 260 Skizzenseiten bieten Einblicke in einen mehrschichtigen, mehrfach rekursiven Kompositionsprozess, der in mehreren Stadien von der Vorkomposition, welche umfangreiche Entwürfe zur Form enthält, schließlich zum höchst komplexen, letzten Endes kontingenten Endergebnis führt. Allerdings ist der Höreindruck möglicherweise weniger komplex, als die Partitur es erahnen lässt. Hierzu meint Klaus Lippe, der sich intensiv mit dem vierten Streichquartett auseinandergesetzt hat: "Dass zur ästhetischen Erfahrung von Musik ihr auditiver Mitvollzug gehört, ist trivial. In Bezug auf Ferneyhough scheint es angebracht, diesen Gemeinplatz einmal umzudrehen: Eine der Komplexität angemessene Rezeption der Musik Ferneyhoughs ist ohne Kenntnis ihrer Notation kaum vorstellbar."

Text: Thomas Wally

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