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Ö1 Kunstgeschichten
Mit J. S. Bach in Scheuchenstein
"Es ist ein schlichtes Instrument für eine schlichte Kirche" schreibt Jacqueline Gillespie, die fast täglich des Abends auf dieser Orgel spielt, "ein großer und tiefer Schrank aus honigfarbenem Eichenholz in ruhiger Maserung", erbaut 1991 von Herbert Gollini. Jacqueline Gillespies Erzählung entführt uns in die kleine Kirche des niederösterreichischen Ortes Scheuchenstein. Jahreskreis und Lebenskreis begegnen einander zwischen den Gräbern, und auch in der Musik des Lieblingskomponisten der Orgelspielerin. Die Orgel selbst verfügt nur über acht Register und strahlt doch Schönheit und Würde aus. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.
9. April 2023, 13:45
Jacqueline Gillespie wurde 1958 in Wien als Tochter eines Schotten und einer Wienerin geboren. Sie lebt in Wien und in der niederösterreichischen Schneeberggegend, spielt Klavier und Orgel und veröffentlichte bis jetzt bei Löcker zahlreiche Kriminalromane sowie bei Kremayr & Scheriau eine Autobiografie.
Nun sitze ich in dieser stillen Kälte, ein Hauch von Wachsduft in der Luft, und baumle ein wenig mit den Füßen. Ich habe die Bank auf kurze Holzleisten gehoben, ich sitze gerne ein wenig höher, das Notenblatt vor mich auf das Pult gelegt. Andächtig beginne ich die erste Zeile zu lesen, Noten für die rechte und die linke Hand, für den rechten und den linken Fuß, und in meinem Inneren erklingt bereits die Musik. Erst dann lege ich sanft die Fingerspitzen auf das Manual, ertaste mit den Füßen das Pedal.
Und so spiele ich die ersten Noten der Bach Fuge in C-Dur. Die Tasten sind leicht, wie spielerisch zu bedienen, und dennoch nicht so leicht, dass bereits ein Anstreifen einer Taste einen Ton klingen lässt. Ist die Taste gedrückt, verliert sich nicht der Ton wie bei einem Klavier, er bleibt erhalten und tönt weiter, bei dieser vierstimmigen Fuge unerlässlich und deshalb so herausfordernd. Auch das Pedal ist mit den Füßen leicht zu spielen, ein kraftvolles Darauftreten nicht von Nöten. Zu Beginn ist es ein verwirrendes Unterfangen, zwei Füße und zwei Hände im Zusammenspiel voneinander zu trennen und gleichzeitig drei Zeilen mit Musiknoten angefüllt zu lesen. Es ist zur Sucht geworden.
Es ist Winter, und als ich morgens im Oberstock unseres alten Bauernhauses die Fensterläden aufstieß, kein Nebel vom Schneeberg ins Tal herübergezogen war, da konnte ich ihn sehen. Den grünen Zwiebelturm der Kirche in Scheuchenstein. Quer übers Tal gleich gegenüber, an der Rückseite der Hohen Wand, da steht das Kirchlein, inmitten hoher Fichten, wie es von der anderen Talseite aus den Anschein hat. Der Weg dorthin ist nicht weit. Von unserem Haus die Forststraße hinunter ins Tal, ein wenig nur die Hauptstraße entlang, und schon führt eine Straße rechts wieder hinauf, schlängelt sich schmal durch ein wenig Wald den Hang hinan, bis linker Hand nach dem letzten Baum der Blick auf sanfte Wiesen sich weitet.
Nach der letzten Kurve kann ich durch das blätterlose Geäst einer großen Esche die Kirche auf einem Hügel stehen sehen, inmitten eines Friedhofs. Die Friedhofsmauer ist kurz, darin eine schwere Holztüre mit eisernem Riegel eingelassen, worauf zu lesen steht, dass Hunden der Zutritt verwehrt und aufgrund der Energiekrise die Beleuchtung ausgeschaltet, der Zutritt somit auf eigene Gefahr erfolgt. Der Hintereingang. Stürzt man inmitten der Toten, die in ihren Gräbern ruhen, so trifft einen ohne Zweifel die alleinige Schuld.
Pippa Galli
Pippa Galli, geboren 1985, stammt aus einer Schauspielerfamilie. Sie ist Bühnen- und Filmdarstellerin sowie Sängerin eigener Texte und Kompositionen.
Jetzt, da die Holztüre aufgeschwungen, kann man schon erste Grabkreuze aufrecht stehen sehen, als strebten sie zum gräulichen Himmel, und aus kleinen Pflastersteinen gemauerte Stufen führen zu einer weiteren Mauer hinauf, dort wo der Weg weiter um das kleine Gotteshaus herumführt, das "Kirche zum heiligen Rupert in Scheuchenstein" genannt wird. Nach den ersten zwei Stufen liegen links und rechts, in drei Reihen, die ersten Gräber. Das Geländer zu rechter Hand willkommen, denn der gepflasterte Weg ist ausgetreten und holprig, so mancher Stein locker oder halb versunken. Der Friedhof ist klein, dennoch gibt es manches zu sehen. Die eng aneinander liegenden Gräber sind stets nach den Jahreszeiten geschmückt. Auch den Festtagen wird man gerecht, weihnachtliche Gestecke werden auf Gräbern niedergelegt und zur Osterzeit schwingen bemalte Eier auf Palmkätzchenzweigen. Morgen ist der dritte Advent, auf manchem Grab liegt daher ein Kranz, und hinten in der Nähe der Kirchentür steckt auf einem Grab ein kleiner Tannenbaum mit hellen Kerzen. Für die Tochter, die vor dem Vater gegangen. Still, keine Vogelstimme zu hören, und doch bläst wie immer der Wind. Dafür würden die Toten sorgen, so hat man mir im Dorf erzählt.
Der Weg an der Rückseite der Kirche ist wohl der schönste, entlang der niedrigen Mauer. Im Sommer summt es träge im Blätterwerk, im Herbst glänzt weinrot, sonnengelb und auberginefarben der Wilde Wein, und die Beeren des Efeus, der ewig dunkelgrün sich dazwischen windet, sind von sattem Blau. Jetzt sieht man bloß kahles Mauerwerk, auf dessen Steinen weiches Moos ruht, starke, nackte Äste des Wilden Weins sich entlang strecken, Efeu mit nunmehr blassgrünen Beeren Geäst und Mauerwerk liebkost, und dürre Lianen die einsame Straßenlaterne umranken. Auf dem Grab, der kleinen Kirchentüre am nächsten, liegen heute Grabkränze, auf den vertrockneten Rosenköpfen bleiben zierliche Schneeflocken liegen. Letzte Woche ist man gestorben. Schlichte Kreuze aus Lärchenholz oder kunstfertig geschmiedete Kreuze, und oft in der Mitte der Arabesken der ans Kreuz Geschlagene. Nur wenige haben für ihre Grabstelle Granitsteine mit gravierter Inschrift gewählt. Gleich links neben dem Hintereingang steht auf einer Tafel, dass nicht alles, was gefällt, auch tatsächlich erlaubt ist. Um die Würde des Ortes geht es.
Zaghaft hat es zu schneien begonnen, lädt zu besinnlichem Schlendern ein. An anderen Tagen kann es passieren, dass hinter einem Grabstein oder Rosenstrauch unvermutet eine Gestalt mit Gartenwerkzeug sich aufrichtet, wo man doch gedacht, man wäre allein.
Wunderschöne Namen lernt man kennen, Hermine und Anastasia, Leonhard und Theodor sind hier gestorben. Und man wird in dieser Gegend ganz allgemein alt, so steht es geschrieben. Dort wo ein Kind begraben liegt, gibt man sich besonders liebevolle Mühe und legt oft eine kleine Figur auf das Grab. Vierunddreißig zähle ich an einer Stelle. Possierliche Engel in allen Größen, kniend und die Hände gefaltet, in einem Buche blätternd, mit zierlichen Blumenkränzen im Haar, eingehüllt in die eigenen Flügel friedlich schlummernd. So manches Grab erzählt vom Schmerz der Hinterbliebenen, vom Unvermögen sich von dem geliebten Menschen verabschieden zu können, ein Grablicht steht da neben dem anderen, die ältesten längst erloschen und dennoch nicht fortgeräumt, und zeugen von verzweifelten täglichen Besuchen. Heute sind noch nicht viele Grablichter angezündet, das wird wohl erst am Sonntag passieren. Wenn es dunkelt, flackern lebendig die Lichter hinter roten Gläsern, ein tröstliches Lichtermeer. Auch um seine verstorbenen Pfarrer kümmert man sich ehrerbietig, gleich rechts neben dem Portal und an der Kirchenmauer, vier Hochwürden gebettet zur ewigen Ruh. Und rechts davon, mit Schmiedeeisengitter eingefasst, die Ruhestätte eines würdigen Sohnes des Ortes aus der Biedermeierzeit: ein Maler, Friedrich Gauermann.
Ich nehme den kleineren Seiteneingang der Kirche, das zweiteilige Portal ist nur zu hohen Festtagen geöffnet. Den Kirchenraum besuche ich jedoch nicht, ich steige elf Holzstufen zu einer versperrten Türe hinauf. Nur wenige besitzen hierzu einen Schlüssel. Das Chorgestühl.
Rechts beim Eintreten drei Reihen Sitzbänke, links der Grund meines täglichen Kommens. Die Pfeifenorgel. Hinter gespannter Kordel, aus hellem Holz und vor dem runden Kirchenfenster an die Wand gerückt. Es ist ein schlichtes Instrument für eine schlichte Kirche. Dem hat der Orgelbauer wohl Rechnung getragen, Herbert Gollini, so hieß er, hat das Instrument 1991 erbaut, das steht auf einer Plakette in römischen Zahlen.
Ein großer und tiefer Schrank aus honigfarbenem Eichenholz in ruhiger Maserung, hoch bis zum Plafond, sodass man mit ausgestreckten Armen nicht bis ganz oben reichen könnte. Ein nüchternes Möbelstück mit klaren Linien und kluger Aufteilung, denn in dem Kasten ist viel unterzubringen und Platz nicht reichlich vorhanden. Gerade mal drei kurze Schritte ist die Orgel breit und wohl eineinhalb Schritte tief. Im oberen Teil des Gehäuses hat Herbert Gollini seine Orgelpfeifen in vier Gruppen unterteilt, und jede mit einem schmalen, hellen Holzrahmen eingefasst. Ganz außen, links und rechts, stehen die langen, breiten Pfeifen und reichen nahezu hinunter bis zum Manual. In der Mitte befinden sich in zwei Gruppen die kurzen, schlanken, und enden bereits am Notenpult. Mit hellen, zierlichen Eichenleisten unterschiedlicher Länge, durch kleine quadratische Holzstückchen verbunden, sind in den oberen Ecken die optischen Leerräume abgedeckt, die durch die unterschiedliche Länge der Pfeifen entstanden.
Am Boden liegt die Pedalklaviatur und glänzt im Lichtschein wie karamellfarbener Bernstein. Sie wird mit den Spitzen und Absätzen beider Füße gespielt. Und gleich darüber, am Gehäuse angebracht, drei einrastbare Fußhebel, die Koppeln. Messingbeschlagen, mit den römischen Zahlen I, II und dem Buchstaben P versehen, sind sie etwas Besonderes, die Spielhilfen einer Orgel. Sie stellen eine Verbindung zwischen Tasten und Pedalen verschiedener Klaviaturen her. Drückt man eine Taste nieder, so wird automatisch die entsprechende Taste auf einer anderen Klaviatur mitgespielt, wie von Geisterhand.
Unmittelbar unter dem Notenpult, in Hüfthöhe, eine Lederabdeckung ist darübergelegt und eine Sitzbank steht davor, es ist ein mir lieb gewordenes Ritual, diese Lederschürze abzunehmen und das Licht über dem Notenpult anzudrehen: nun kann man sie sehen, die Manuale! Es sind deren zwei und nicht nur eines, die schmalen Obertasten elfenbeinfarben, von sattem Schwarz die breiten Untertasten. Wie Ebenholz, exotisch kostbar. Drückt man jedoch eine Taste hinunter, verrät das helle Innenleben der Nachbartaste, dass mit Farbe gestrichen wurde. Birnenholz, in einem Obstgarten gewachsen, im Herbst süße Früchte gespendet, nun dient es der Musik. Auch den Heizstrahler drehe ich zu dieser Jahreszeit an: ein Versuch, die Hände während des Spiels ein wenig wärmer zu halten.
Links und rechts der Manuale stecken im Gehäuse jeweils vier Zugregisterknöpfe. In zierlicher Schrift stehen auf jedem Knopf ein Name und eine Ziffer mit Apostroph, eine Vier, eine Acht, auch eine Sechzehn, Zollangaben im alten Maß, die die Länge der Pfeifen angeben. Das Instrument verfügt nur über acht Register und ist auch hier von herrlicher Schlichtheit. Unter "Rohrflöte" kann man sich noch etwas vorstellen, es lässt einen an Musiktöne denken, ebenso unter "Subbass", doch was ist unter "Prinzipal" zu verstehen?
Auf der rechten Seite steckt ein Schlüssel. Noch schweigt das Instrument. Wer glaubt, der Orgel bereits Töne wie einem Klavier entlocken zu können, der irrt. Dreht man nun den Schlüssel um, so rauscht zunächst kraftvoll ein Gebläse, das wenig später nur noch dezent weiter summt. Orgelwind für die Pfeifen. Ohne Luft kann man nichts hören. Zieht man nun an den Knöpfen, so verleiht man dem Instrument seine Stimmen, Luft wird durch die entsprechenden Pfeifen geblasen. Zwei Knöpfe für die Klaviatur, auf der die Füße spielen, drei auf der linken Seite für das erste Manual, drei auf der rechten Seite für das zweite.
Bevor das Spiel beginnt, muss ich mich für die Registrierung entscheiden. Es ist nicht gleichgültig aus welcher Epoche das Musikstück stammt, die Barockzeit verlangt nach anderem als die Romantik, und so mancher Komponist in späterer Zeit hat genaue zusätzliche Angaben hinterlassen. Ich habe mir zu Beginn meines Spiels auf dieser Orgel jede einzelne Registrierung angehört, versucht ihren Charakter wie den einer menschlichen Stimme zu benennen. Die "Hohlflöte" lockte mich mit weicher Kinderstimme, das "Gedeckt" war lieblich und melodiös, das "Prinzipal" ernst und die "Mixtur" forderte schrill Aufmerksamkeit. Die "Oktave" klang zart und die "Rohrflöte" sang mir vor mit Elfenstimme. Und war der "Oktavbass" noch freundlich und hell, so mahnte mich der "Subbass" mit düsterer Stimme. All diese Stimmen können zusammen erklingen, wie in einem Chor. Viel Wissen und Erfahrung ist da von Nöten, und bei der Besprechung eines neuen Stückes schätze ich den Rat meines Orgellehrers. Es ist ein unfassbar weites Feld.
Auch Kälte kann mich von einem Besuch nicht abhalten, jeden Tag zieht es mich hierher. Ich erscheine in Skihose, ein Heizkissen im Notensack. In so manchem Winter ist das Weihwasser gefroren. Dass dieses katholische Wasser vor meiner schottischen protestantischen Seele womöglich vor Schreck zu Eis erstarrt, entlockt mir stets ein Schmunzeln. An solchen Tagen ziehe ich seltsame Handschuhe an, deren Finger abgeschnitten sind. In meiner Kinderzeit am Naschmarkt trug die Kartoffelverkäuferin ähnliche, als sie Kartoffeln in eine verbeulte Messingschale leerte. Für beides beneidete ich sie, für ihre Handschuhe und die Schale, und der Beruf der Kartoffelverkäuferin erschien mir damals höchstes Glück.
Es ist dämmrig in der Kirche. Hinter dem Altar, unten in Kirchenraum, brennt still das ewige Licht. Doch hier oben am Chorgestühl erhellt nur die Stehlampe die Manuale, und eine Neonröhre, unter dem Manual angebracht, nur die Pedalklaviatur. Neben mir steht auf einem Ständer ein gesprungener Spiegel, der mir den Altarraum in meinem Rücken zeigt. Von Bedeutung, wenn man eine Messe spielt, doch ich spiele stets nur für mich. Die Glühlampe meiner eigenen Deckenlampe ist kaputt gegangen und die anderen Lampen, über den wenigen Bänken im Chorgestühl, wären nur unten in der Sakristei anzudrehen. Doch diese Intimität ist mir recht. Sanft lege ich die Fingerspitzen auf die Tasten. Wie kühle Seide. Es ist mir, als würde die Orgel mich locken.
Draußen vor dem runden Fenster ist es längst finster geworden, nun läuten die Kirchenglocken den Angelus. Sieben Uhr. Und es beginnt die mir liebste Zeit. Eine automatische Verriegelung versperrt die Kirchentüre, niemand kann mehr herein. Wir sind allein, die Orgel, die Musik und ich. Auch unten im Kirchenraum ist es nun dunkel.
Da stimme ich behutsam den ersten Triller des Largo aus dem kürzesten der sieben Cembalokonzerte von Johann Sebastian Bach an, Vorlage war sein Violinkonzert in G-Moll. In kaltklarer Luft schweben die Töne in Unendlichkeit, Dreiklänge in der linken Hand fallen wie sanfte Regentropfen, der Basso continuo einem Herzschlag gleich, während die rechte Hand mit zarter Lieblichkeit eine Geschichte erzählt.
Überschäumende Lebensfreude, herzzerreißender Schmerz und sanfte Tröstung, all das ist Bach. Und Gebet. Musik bebt und atmet in dunkler Luft. Ich muss mich nicht umdrehen im Spiel, ich kann es fühlen. Da oben im Chorgestühl steht Bach hinter mir.