PICTUREDESK.COM/AFP/EMMANUEL DUNAND
Ö1 Kunstgeschichten
Susanne Ayoub zu "La Mémoire" von René Magritte
Es ist ein unheimliches Motiv des surrealistischen belgischen Malers René Magritte, das dieser in mehreren Varianten ausführte. Magrittes Darstellung der Skulptur eines Kopfes inspirierte die Wiener Autorin Susanne Ayoub zu ihrer „Ö1 Kunstgeschichte“, in der sie dem Kunstobjekt eine neue Herkunft und Deutung gibt. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.
11. Juni 2023, 19:07
John stand am Fenster, seinem Lieblingsplatz. Der Blick auf das Meer war zu allen Zeiten des Tages und der Nacht schön, immer verschieden. Alle Schattierungen von grün und blau und grau und schwarz, über die er Stunden nachsinnen konnte, wie sie sich auf die Farben seiner Palette übertragen ließen, eine Möglichkeit und Unmöglichkeit zugleich. Denn er war kein Maler, sondern ein Bildhauer, aber er fand nicht oder immer seltener den Antrieb in sich, etwas zu gestalten. Ein Bild, ein unbelebtes Bild, keine Menschen, nur die Farben des Meeres, das wäre etwas, das ihn reizte, doch er versuchte es nicht, er spürte schon beim Gedanken daran, seine Vorstellung in ein Werk umzusetzen, das Gefühl des Versagens.
Susanne Ayoub
Susanne Ayoub wurde 1956 in Baghdad geboren, sie lebt in Wien und Niederösterreich. Die Werkliste der mehrfach ausgezeichneten Autorin umfasst Romane, Gedichtbände, Theaterstücke, Drehbücher und Hörspiele. Zahlreiche Regiearbeiten für Kino, Theater und Fernsehen runden ihr Arbeitsfeld ab.
Und doch hatte er den Auftrag angenommen, eine Büste. Den Kopf eines Jünglings, David. Den John dummerweise persönlich kannte. Das jedenfalls war seine Erklärung, warum es ihm nicht gelingen wollte. Die Mutter hatte die Büste in Auftrag gegeben, ein Geschenk für ihren Mann. David war gekommen, um Modell zu sitzen. Drei Versuche hatten sie schon hinter sich. Es begann vielversprechend. Geduldig nahm David die angewiesene Position ein, er rührte sich nicht, bis John es ihm erlaubte. John arbeitete schnell, er kannte das Material, er mochte es, sein Leben lang hatte er mit Ton gearbeitet. Die Ähnlichkeit, das wichtigste Kriterium beim Porträtieren, war vorhanden, die schönen gleichmäßigen Züge, der sanfte, zurückhaltende Blick, der nachdenkliche Mund; und dann plötzlich verwandelte es sich zu einem Mädchengesicht, und jede Korrektur verstärkte den Eindruck nur. Beim letzten Mal hatte David die Büste gesehen, bevor John sie zudecken konnte. „Das musst du ändern“, sagte er, „das würde meinem Vater nicht gefallen.“
John hörte von unten das regelmäßige Schlagen von Metall auf Stein. Wanda hämmerte schon seit dem Vormittag auf ihrem Marmorblock herum. Er fragte sie nicht nach ihrer Arbeit. Er ging auch nicht hinunter, um sich anzusehen, was sie tat, nicht bevor sie ihn dazu einlud. Doch Wanda war scheu, sie wagte es nicht, kannte seine Launen und seinen Unmut, wenn auch nicht deren Ursache. Dass sie selbst es war, ihr Fleiß, ihre Ausdauer, ihre tägliche Inspiration. So war auch er einmal gewesen. Er wollte sich nicht erinnern.
Es war vier am Nachmittag, er hatte nichts gegessen und schon Lust auf den ersten Whiskey. Aber er hielt sich zurück. Er wartete, dass sie Schluss machte. Sie könnten sich ins Cabrio setzen und am Meer entlangfahren, in einem der Fischlokale essen, Wein trinken, und danach vielleicht noch schwimmen gehen. Er malte sich die kleine Idylle aus und verwarf sie sogleich. Der Kopf, Davids verdammtes Mädchengesicht, das musste er lösen. Er schenkte sich einen Single Malt ein. Er besaß ein anspruchsvolles und vielfältiges Sortiment von Spirituosen, obwohl er kein Feinschmecker war, weder beim Essen noch beim Trinken. Er erfreute sich eher an den luxuriösen Flaschen, die ein sichtbares Zeichen seines Erfolgs waren, wie das Haus am Meer, das englische Auto und die wertvolle Kunstsammlung, die er ohne Plan, rein instinktiv zusammengetragen hatte, vor langer Zeit, als alles noch anders gewesen war. Er mochte seine jämmerliche Stimmung nicht, aber er fand auch nichts heraus; nicht, bevor er diesen elenden Auftrag in den Griff bekommen hatte. Er könnte ihn zurücklegen. Vielleicht würde er es auch tun.
Im Erdgeschoß wurde es still. John wartete, aber Wanda nahm ihre Arbeit nicht mehr auf. Eine Minute verging, dann hörte er ihre Schritte auf der Treppe. Zwei Jahre war sie schon seine Geliebte. Viel zu jung, das waren sie alle. Er suchte sie nicht aus, sie suchten ihn aus, bedrängten und belagerten ihn, lauerten auf jede Gelegenheit, mit ihm allein zu sein. Es war der Ruhm, nicht seine Unwiderstehlichkeit, das wusste er natürlich, obwohl es seiner Eitelkeit schmeichelte, wie auch nicht? Schöne Frauen warben um ihn, sehr schöne Frauen. Wanda gehörte nicht zu ihnen. Wanda hatte ihn mit etwas anderem betört: mit ihrem Talent. Nie sprach er es aus, wie sehr er ihre Kunst bewunderte. So war auch er einmal gewesen, kompromisslos und völlig überzeugt von dem Werk, das entstand. Sie kannte die Figur, die im Stein verborgen war, spürte sie auf, sah sie, die nicht zu sehen war. Dieser Blick, ein Durchblick, konnte nicht gelehrt werden. Die Natur hatte ihn ihr geschenkt. Und er wusste es, er verstand, weil er selbst ihn besaß. Immer noch ging er zu seinen Steinen im Atelier, im Garten, die warteten, vergeblich. Der feine, grünliche Marmor aus Carrara, Fragment geblieben. An ihn dachte er oft, doch es blieb dabei, er konnte nicht mehr bildhauern. Die Arbeit am Stein hatte seinen Rücken ruiniert, seine Knochen, Bänder, abgenützt, gerissen, nichts mehr wert. Seine Hände, einst mächtige Pranken, waren nun weich wie Frauenhände, untätig. Er nahm einen Schluck vom Malt Whiskey, spülte ihn links und rechts im Mund. Ein Zahn im Unterkiefer pochte leise.
Die Sprecherin Petra Nagenkögel wurde 1968 in Linz geboren, sie ist auch Autorin und Literaturvermittlerin. Seit 1996 ist sie Leiterin des Literaturvereins „prolit“ mit Schwerpunkt auf der Vermittlung von ost- und südosteuropäischer Literatur, zudem gestaltet sie Schreibwerkstätten für Jugendliche und Erwachsene.
Wanda trat ein und kam zu ihm. Sie trug ein Herrenhemd mit abgeschnittenen Ärmeln, Shorts, die langen Beine vom Steinstaub weiß gepudert, Holzpantoffeln. Ihr langes Haar war mit einem Gummiring zusammengebunden. Sie nahm ihre Schutzbrille ab, musterte ihn.
„Was hast du?“
Er antwortete nicht. Es war ungerecht, zornig auf sie zu sein, weil ihr Rücken nicht kaputt war, weil sie erfüllt war von ihrer künstlerischen Arbeit, weil sie so stark war, so freudvoll. Und doch so leicht zu kränken mit jeder Kritik, unsicher, ob es Kunst war, was sie schuf. Er hatte es ihr nie gesagt. Warum sollte er sie bestärken, sie musste von sich überzeugt sein, das war das innerste Wesen des Kampfes. Alle wollen dich klein machen, aber du weißt, was du kannst.
Sie wollte ihn in die Arme nehmen, er wich zurück. Sie war verschwitzt und schmutzig vom Atelier, und er noch umgeben von dem parfümierten Bad, das er am Nachmittag genommen hatte. Um sich auf Davids Kopf einzustimmen. Ohne Erfolg.
„Willst du dich nicht waschen? Ich habe Hunger, gehen wir was essen.“
Sie nickte, und ihr Blick glitt an ihm vorbei zu der noch weichen Tonbüste. Unwillkürlich lächelte sie, was ihn ärgerte, aber er zeigte es nicht.
„Du siehst das Problem?“ fragte er schroff.
Das Problem war Davids Homosexualität. Sein Vater ahnte sie womöglich, doch er ließ dieses Thema nicht zu, es war in seinem Hause schlicht verboten. Ob das David nun schmerzte oder gleichgültig war, er äußerte sich nicht. Outing in Form eines Kunstwerks, das noch dazu ein Geschenk für den Vater werden sollte? Nein.
Wanda betrachtete das Werk. Sie war nun wieder ernst, nagte an ihrer Unterlippe.
„Also?“ Er behielt den mahnenden, lehrerhaften Ton, als müsse sie eine Prüfung bestehen.
Wanda sah nicht auf, er wusste, sie hatte Angst vor seinem Zorn. Fast unmerklich hob sie die Schultern.
„Mehr fällt dir nicht ein?“
Endlich riss sie sich los, griff in ihr Haar, um den Gummi zu straffen. „Du machst, was du siehst. Das ist kein Problem. Nicht deines. Er ist weiblich.“
„Aber ich muss ihn als Mann darstellen!“ schrie er sie an.
Wanda zuckte zusammen. „Und warum tust du es nicht?“ fragte sie dann vorsichtig.
Er knallte sein Glas auf die Fensterbank. Sein Zahn protestierte. Schnell schenkte er nach und trank.
„Tu du es. Wenn du glaubst, dass es so einfach ist. Ich meine es ernst.“
Sie stellte den Kopf aus weichem Ton auf den Arbeitstisch, setzte sich davor und begann. John trank und starrte aus dem Fenster. Warum zischte und brodelte die Wut in seinen Schläfen, er musste sich zusammennehmen, was war so wichtig an dem verdammten Auftrag? Für einen Künstler, der alle bedeutenden Ehrungen, national wie international bekommen hatte, dessen Werk in den Museen der Welt hing, der nur mehr selten öffentlich auftrat, aber dann immer mit großem medialem Echo. Er war einer der Giganten, und er lebte noch. Nach seinem Tod würde er in den Himmel der Genies gehoben werden, nein, eigentlich war er schon dort. Ein drittes Mal füllte er sein Glas. Er spürte keine Trunkenheit, nur die schäumende Wut in seinem Kopf war verflogen, einer kleinen Benommenheit gewichen. Wanda sagte etwas, fast unhörbar, sie schob den Stuhl zurück und stand auf. Er wandte sich um und da war er, der schöne, junge David. Feminin, ein bezaubernder Jüngling, doch unverkennbar ein Mann. Und neben ihm stand Wanda, sie stieß ein winziges Jauchzen aus, sie freute sich. Mit wenigen Korrekturen war ihr gelungen, woran er gescheitert war. Sie fragte ihn nicht nach seiner Meinung, ihr Erfolg war offensichtlich.
Überzeugt, dass er darüber froh sein musste, fiel sie ihm um den Hals, wollte ihn küssen, ihn, weil er nicht reagierte, an den Händen fassen, da gab er ihr einen Stoß. Viel stärker, als er gedacht hatte und für sie so unvermutet, dass sie das Gleichgewicht verlor und nach hinten stürzte. Er packte sie an den Schultern, bevor sie an der Tischkante aufschlug, aber nur, um sie mit aller Kraft dagegen zu schleudern. Er hatte nichts vom Ausmaß seiner Wut geahnt. Ihr Kopf prallte gegen den Tisch. Er umfasste ihre Wangen, er schlug sie noch einmal dagegen und ein drittes Mal. Dann ließ er sie fallen, sie rührte sich nicht. Er ging in den Garten zu seinem liebsten Stein, dem Fragment. Ein Michelangelo hatte er werden wollen, in der Galleria dell’Accademia von Florenz hatte er geweint vor den Sklaven, das war es, was er schaffen wollte. Was er nicht erreicht hatte. Und jetzt war es vorbei, alles vorbei.
Er ging ins Haus zurück. Sie lag, wie er sie verlassen hatte. Da war Blut, viel Blut, er hatte es zum Fließen gebracht. Er wusste nicht, was er nun tun sollte. Warten, bis er sicher sein konnte, dass es vorbei war? Seine Wut hatte sich in ein kleines, böses Flackern in seinem entzündeten Zahn zurückgezogen. Er zwang sich, noch einen Schluck zu trinken. Die Büste war zum Glück nicht zu Boden gefallen, ein Wunder eigentlich. Er wickelte Davids Kopf in ein Tuch und stellte ihn ans Fenster. Dann rief er die Rettung an. Wanda berührte er nicht. Er wollte nicht wissen, ob er sie getötet hatte. Ein Unfall war es in jedem Fall gewesen.
Sie nahmen sie mit ins Krankenhaus. Er blieb in seinem Haus und wartete. Um zwei Uhr früh kam der Anruf. Sie hatte den Trümmerbruch des Schädels nicht überlebt.
Er blieb, wo er gesessen war, in der Dunkelheit. Eine Stunde später läutete es an der Tür. Zwei Polizisten standen davor.
„Sind Sie John Becker?“
Er ließ sie ein, führte sie in sein Arbeitszimmer, zeigte ihnen den Ort des Geschehens. „Es war ein Unfall, ein unglückseliger Moment. Ich fühle mich schuldig.“
Sie hörten ihn ruhig an. Wie Wanda ihn umarmt und er sie zurückgeschoben hatte. „Sie hat plötzlich das Gleichgewicht verloren und ist mit dem Kopf gegen diese Kante des Tisches gefallen.“ Er zeigte hin, und die Polizisten nickten. „Ich wollte doch nur, dass sie sich für das Abendessen fertigmacht, ich habe sie gar nicht fest angegriffen.“
Die Lüge fiel ihm leicht, sie war so nahe der Wahrheit, dass er beinahe vergaß, wie wütend Wanda ihn gemacht hatte. Er ließ sich in den Sessel zurückfallen, in dem er die Nacht verbracht hatte. Ein Polizist machte Fotos, der andere stellte seinen Laptop auf. John gab seinen Bericht ein zweites Mal zu Protokoll. Niemand stellte sein Wort in Frage. Welches Motiv hätte er auch gehabt, seine junge Geliebte umzubringen?
Er war sehr müde, als sie gingen. Nun musste er schlafen. Er hatte vierundzwanzig Stunden nicht gegessen, seit dem gemeinsamen Frühstück am Morgen davor. Doch Hunger verspürte er nicht, auch keine Trauer. Er legte sich in seinen Kleidern auf das Sofa, schloss die Augen und wartete auf den Schlaf. Er kam nicht, nur Wandas Bild, ihre Freude, versteckt aber nichtsdestotrotz vorhanden. Ihr stiller Triumph. Aber nun war er es, der triumphierte. Mit diesem Gedanken gelang es ihm, seine Wut endlich auszulöschen. Es gab keinen Grund mehr dafür.
Er musste eingeschlafen sein, denn die Sonne schien gleißend auf das Fenstersims. Das Meer zeigte ein silbriges Blau, der Wellengang war ruhig, bald würde die Ebbe kommen. John stand auf. Er fühlte sich klebrig und verkatert. Auf dem Tuch, in das er die Büste gehüllt hatte, entdeckte er einen roten Fleck. Woher kam der, mit Wandas Blut war er nicht in Berührung gekommen? John zog das Tuch weg und erschrak vor dem Mädchengesicht. Schnell schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der schöne Jüngling David zurückgekehrt, doch er hatte eine Mädchenfrisur. Lange Flechten wanden sich um den tönernen Kopf, Locken fielen ihm in die Stirn. John seufzte auf. Egal, das ließ sich noch ausbessern. Dann entdeckte er die Wunde an der Schläfe. Sie blutete.