Ö1 Kunstgeschichten
Bernhard Kathan über Antony Gormleys Eisenmänner
Die LandArt Installation "Horizon Field" des englischen Künstlers Antony Gormley war von 2010 bis 2012 in Vorarlberg zu sehen. Von Publikum und einheimischer Bevölkerung wurden die einhundert lebensgroßen Eisenmänner im Hochgebirge einerseits als augenöffnende künstlerische Aussage über das Verhältnis zwischen Mensch und Landschaft wahrgenommen, andererseits aber auch als Naturzerstörung. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.
2. Juli 2023, 05:00
Wenn mir in den letzten Monaten ein Gerechter unterkam, dann ein Schafbauer, ganz unten in der gesellschaftlichen und bäuerlichen Hierarchie stehend, bewirtschaftet er doch nahezu ausschließlich Flächen, die niemand mehr bewirtschaften möchte. Ich verfolge seine Arbeit seit Jahren mit großem Interesse, zumal nicht nur seine Schafe auffallend gesund sind, sondern auch die Böden, auf denen diese weiden. Vor einem Jahr erzählte er mir, er habe Mitte August abfahren müssen, da ein Wolf mehrere seiner Schafe gerissen habe. Seinen ganzen Ärger in Erinnerung, ließ ich das Auto stehen, ging zu ihm hinüber, um mich nach seinem diesjährigen Alpsommer zu erkundigen. Fragte ihn, ob er wieder Risse zu beklagen habe. Nein. Nur zwei Lämmer habe er verloren. Er vermute einen Blitzschlag. Er habe lange nach den beiden suchen müssen. Er erzählte mir von der Erschöpfung, die er danach empfunden habe. Er werde älter, mit jedem Jahr lasse seine Kraft nach.
PRIVAT
Bernhard Kathan wurde 1953 in Vorarlberg geboren, er lebt in Innsbruck. Der Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler beschäftigt sich auch in seinen literarischen Arbeiten mit Aspekten der Alltagsforschung, der Psychologie und der historischen Anthropologie.
In einer Senke, neben einem der Eisenmänner hätten sie gelegen. Der Eisenmann habe ihm keinen Wink gegeben, sei nur stumm und blöd dagestanden. Plötzlich brach es aus dem Mann heraus: "Was sehen die Eisenmänner. Sie sehen nichts, sie sind blind." Sie starrten nur, starrten in die Landschaft, so blind wie jeder Stein, von denen da abertausende herumlägen. Kein Stein, kein Eisenmann habe ihm die Richtung gewiesen. Und doch habe er sich auf Zeichen verlassen können, auf Fraßstellen und Trittspuren. Die Bewegungsmuster von Schafen seien ihm vertraut. Wäre es nicht so, nie hätte er da oben die beiden Lämmer im weitläufigen Gelände gefunden.
In einem Buch habe er gelesen, das Land des Volkes der Tarahumara in Mexiko sei voller Zeichen. Er habe es nicht überprüfen können, müsse er sich doch um seine Schafe kümmern, könne nicht einfach, so dir nichts, mir nichts, nach Mexiko fahren. Sollte das Land der Tarahumara tatsächlich voller Zeichen sein, dann hätten diese Zeichen gewiss eine Bedeutung, sie verwiesen auf etwas, sei es ein Unglück, das sich an dieser oder jener Stelle vor langer Zeit ereignet haben mochte, sei es auf eine Gefahr, die sich nicht benennen, wohl nur ahnen ließe.
Ein Zeichen dagegen, das nur auf sich selbst verweise, das nichts als Zeichen sei, letztlich keine Bedeutung habe, nichts sage, keinen Wink gebe, sei ein sinnloses Zeichen. Ihn interessierten wirkliche Zeichen, Zeichen der Trächtigkeit, Hinweise auf eine Wurmerkrankung, Anzeichen eines Wetterumsturzes oder eines frühen Wintereinbruchs. Die Eisenmänner dienten ihm bestenfalls als Orientierungspunkte im Gelände, nicht anders als alleinstehende Wettertannen, markante Steine oder Stützen einer der vielen Seilbahnen. Das da oben in der Kirche entzweigebrochene steinerne Taufbecken, ja das könnte ein Zeichen sein.
Der Sprecher Till Firit, Jahrgang 1977, stammt aus Leipzig und lebt in Wien. Nach Engagements am Düsseldorfer Schauspielhaus, dem Wiener Volkstheater, dem Münchner Residenztheater und zuletzt dem Wiener Burgtheater arbeitet er als freischaffender Schauspieler hauptsächlich für Radio, Film und Fernsehen.
Da er die Eisenmänner erwähnt hatte, wollte ich mehr darüber erfahren, was jemand wie er über die ins Gebirge gestellten Kunstwerke denkt. Solche Menschen lassen sich nicht einfach befragen, an Fragestunden sind sie nicht gewöhnt. Auch ist das in ihnen tief verwurzelte Misstrauen groß, wie mir aus vielen Gesprächen mit Bauern bekannt ist. Statt auf meine Frage zu antworten, wandte er sich einem der Schafe zu, packte es und zerrte es in den bereitstehenden Anhänger. Kaum hatte er die Bordwand hochgeklappt, war er mit anderem beschäftigt.
Als er sich mir wieder zuwandte, äußerte er sich nicht zu den Eisenmännern, sondern holte stattdessen weiter aus. Gewiss, Menschen könnten ein und dasselbe sehr unterschiedlich betrachten. Von seiner Stalltüre aus beobachte er des öfteren das Treiben von Bergdohlen, deren Geselligkeit höchst zwiespältig sei, lasse sich doch nie mit Bestimmtheit sagen, was die Oberhand habe, das Zusammenwirken bei der Suche nach Nahrung oder der Streit um Nahrung. Ordnung und Unordnung in stetem Widerstreit. Würden Dohlen kreisend höher steigen, ließen ihn ihre Bewegungen an eine Doppelhelix denken. Das ihnen eingeschriebene Muster erreiche aber nie seine optimale Form. Zu stark sei der Eigensinn, der Spieltrieb, womöglich die Angst des Einzeltieres, im Schwarm seiner Existenz verlustig zu gehen. Sicher sei er sich dessen nicht, er könne nur aufgrund seiner Beobachtungen Vermutungen anstellen. Er sei ja keine Dohle und wisse deshalb nicht, wie er sich in einer unvollkommenen Doppelhelix fühlte.
Wäre er eine Dohle, gewiss würde auch er hinausgrasen, die vorgegebene Ordnung stören. Und wie in seinem wirklichen Leben würde auch dann nach ihm gehackt. Über solches hätte er wohl nie nachgedacht, wäre da nicht ein pensionierter Lehrer gewesen, der stets schreiend auf dem Balkon des seinem Stall gegenüberliegenden Hauses erschienen sei, habe sich nur eine einzige Dohle auf das Geländer gesetzt. Nun, da der Lehrer verstorben sei, habe sich das Bild auffallend gewandelt. Neuerdings lasse sich dessen Frau auf dem Balkon sehen. Das Geschrei des Lehrers werde wohl oft genug ihr gegolten haben. Nun könne er die alte Frau beim Füttern von Dohlen beobachten. Sie lasse sich sogar aus der Hand fressen. Nicht viel anders sei es mit den Eisenmännern. Was den einen als rostiges Alteisen erschiene, das betrachteten andere als höchst kostbare Einzelstücke. Während die einen die Natur durch das Herumstehen von so und so vielen Eisenmännern gefährdet sähen, dächten andere, die Natur wie das imposante Gebirgspanorama kämen erst dann richtig zur Geltung, stünden Eisenmänner herum. Das lasse ihn an das zänkische Ehepaar denken, das sich nicht habe einigen können, ob es besser sei, Dohlen zu füttern oder zu vergiften, zumindest aus dem Feld zu treiben, zu verjagen, ihnen die Anwesenheit unmöglich zu machen.
Obwohl er mehrfach meinte, er wolle mit dem ganzen Unsinn nichts zu tun haben, konnte er sich dann doch nicht genug über die Eisenmänner ereifern, über das ganze Natur- und Kunstgequatsche. Da stritten sich zwei Parteien, die nicht weit auseinander lägen. Schon bei einem Wort wie Landschaft drehe sich ihm der Magen um. Landschaften gebe es nur auf Postkarten, auf Fototapeten oder Riesenbildschirmen in Arztpraxen. Berge und Täler, darüber weggleitende Wolkenformationen, stets aus der Ferne betrachtet. Er kenne keine Landschaft, er kenne nur Gelände. Gelände, in denen er sich bewege, bewegen müsse, den Tieren gleich, Anstrengungen auf sich nehmend. Sitze er spätabends auf seinem Mähtruck, fahre Hügel hinauf und hinunter, dann sehe er im Lichtkegel der Scheinwerfer nur das unmittelbar vor ihm liegende Feldstück, buchstäblich den Boden, müsse sich auf die Linie konzentrieren, die das bereits Gemähte vom noch nicht Gemähten trenne, Hindernisse im Auge haben, drohe doch eine Beschädigung seines Mähwerks, würde er auch nur eines übersehen, etwa einen Eisenpfahl, den ein anderer als Grenzzeichen in die Erde geschlagen habe. Auch müsse er im steilen Gelände darauf achten, dass sein Fahrzeug nicht kippe, sich nicht überschlage, nicht ins Rutschen komme.
Gelände hätten ihn geformt, ihm Gestalt und Geist gegeben. Als Kind habe er da oben, wo nun 89 Schilifte und Sesselbahnen stünden, das Vieh hüten müssen. Ob er das wolle, niemand habe ihn danach gefragt. Er erinnere sich noch an manch regnerische und kalte Tage, an denen er barfuß von einem frischen Kuhfladen in den nächsten getreten sei, um sich aufzuwärmen. Er habe den warmen Kot, die breiige Masse, durch seine Zehen gleiten lassen und dabei ein gewisses Lustgefühl empfunden, zumindest eine Art Wohligkeit, eine Empfindung, die in seiner Kindheit sehr selten gewesen sei. Mit Landschaft habe solches nicht das Geringste zu tun, nur in einem Gelände könne man solche Erfahrungen machen. Man habe ihm geraten, seine Schafe mit Passivsendern auszustatten. Dann wisse er stets wo sie sich befänden, müsse nicht länger nach ihnen suchen. Aber das wäre ihm doch zuwider. Schon allein der Gedanke, sich wieder einer App auszuliefern, selbst bewirtschaftet zu werden, halte ihn davon ab. Nein, eine Totmeldung wolle er nicht erhalten.
Tiere seien Lebewesen, keine Punkte in der Landschaft. Die Eisenmänner seien in die Landschaft gepunktet, wie mit Stecknadeln in die Landschaft eingespießt. Er wolle das Gelände begehen, so anstrengend das manchmal auch sei. In einer Landschaft könne man sich nicht verlieren, wohl aber in einem Gelände. Ein Gelände könne gefräßig sein, eine Landschaft nicht. Die Eisenmänner da oben würden kein Gelände kennen. Sie seien in die Landschaft gesetzt wie in ein Postkartenmotiv. Früher hätten sich die Menschen mit Postkarten von Defner oder Risch-Lau begnügt. Inzwischen seien an die Stelle von allein stehenden Heuställen in tiefverschneiten Landschaften Eisenmänner getreten. Nie würde er sich neben einen der Eisenmänner stellen, um von sich ein Selfie zu machen, das doch nur sage, da oder dort gewesen zu sein: "Aber wo waren sie? Sie können sich genauso gut vor den Schiefen Turm von Pisa stellen!"
In seiner Kindheit habe es wenige Bilder gegeben. Wohl deshalb könne er sich an die eine oder andere Abbildung gut erinnern. An einer Wand in der Stube habe lange eine gerahmte Landschaftsaufnahme gehangen, ein einsames Boot in einem Fjord vor untergehender Sonne. Sein Vater habe das Bild aus dem Krieg mitgebracht. Was er im Krieg erlebt habe, das habe sein Vater aber nie erzählt. Als er sich dessen bewusst geworden sei, habe er das längst verblichene Bild von der Wand genommen, die Glasscheibe aus dem Rahmen gelöst, diesen mit der Abbildung und dem rückseitigen Karton verbrannt. Und ähnlich ginge es ihm mit den Eisenmännern. Nein, zerstören würde er sie nie. Man müsse das achten, worüber sich andere Gedanken gemacht und wofür sie sich angestrengt hätten. Aber: Als er auf der Suche nach den abgängigen Lämmern an mehreren Eisenmännern vorbeigekommen sei, da habe er sich doch den Spaß erlaubt, hin und wieder einen Stein aufzuheben und gegen eine der Figuren zu werfen. Er wisse schon, Kunst dürfe man nicht mit Steinen bewerfen. Aber ein Stein, der aus etwa zwanzig Metern Entfernung auf einen eisernen Koloss mit dem Gewicht von 640 Kilogramm geworfen werde, könne diesen nicht wirklich beschädigen. Vielleicht habe er nur deshalb immer wieder einen Stein aufgehoben und nach einem Eisenmann geworfen, um sich zu vergewissern, ob er noch zielen, ob er noch treffen könne, so wie in früheren Jahren. Er werde langsam alt. Immer wieder habe er die anvisierte Figur verfehlt. Habe er aber einen der Eisenmänner getroffen, dann habe ihn der Klang nicht glücklich gemacht. Viel zu dumpf. Jede Autofelge klinge besser, selbst Kuhglocken, die unüberhörbar einen Sprung aufwiesen. Die Eisenmänner würden nicht wirklich klingen, sie könnten es gar nicht, seien sie doch tot, ohne jedes Eigenleben.
Wenn eines seiner Schafe von einem Wolf gerissen werde, dann überkomme ihn eine rasende Wut und er denke, abschießen müsse man jeden Wolf, und hätte er ein Gewehr, dann hätte er keine Scheu, das zu tun, so sich ihm einer zeigte. So dächten auch andere. Komme er aber wieder zur Ruhe, lehne er sich zurück, dann ginge ihm anderes durch den Sinn. Da es die Eisenmänner nun einmal gebe, fügten sich auch Wölfe und Bären, ob es ihm gefalle oder nicht, ins Bild. Viele, vor allem Menschen aus der Stadt, dächten, die Welt sei wieder heil, gebe es wieder Wölfe und Bären. Dass sich da oben viel geändert habe, das sähen sie nicht, sprächen immer noch von Natur und großartiger Gebirgslandschaft, so als gäbe es die 89 Seilbahnen und Liftanlagen nicht, keine 300 Schiabfahrtskilometer, keine 200 Kilometer Tiefschneeabfahrten, all die Beherbergungsbetriebe, die da wucherten. Wie hieße es doch: "Bequem und schnell auf alle Gipfel im Skigebiet. Weniger Wartezeit, mehr Abfahrtserlebnisse." Man scheue sich, es auszusprechen, aber wenn er an da oben denke, dann an ein riesiges Industriegebiet, in dem eine neue Art Bergbau betrieben würde. In den Sommermonaten, wenn er da oben nach seinen Schafe sehe, falle ihm das besonders auf. Um die Natur müsse man sich keine Sorgen machen. Selbst auf Müllhalden entwickle sich neues Leben. Nicht die Natur sei in Gefahr, in Gefahr seien die Bilder, die sich solche Leute von der Natur machten.
Warum sollte es keine Wölfe geben, keine Bären? Da sei ich an den Falschen geraten. Man frage auch nicht, ob es Flugzeuge geben solle. Die Menschen hätten sich an Flugzeuge gewöhnt und würden sich auch an Wölfe und Bären gewöhnen, wie auch den Eisenmännern schon in wenigen Jahrzehnten niemand mehr die geringste Beachtung schenken werde. Dann würden sie, wie all die Steine vorhanden sind, vorhandenes Material sein, an dem Menschen achtlos vorbeigingen wie an Feldkreuzen und dergleichen. Wenn es überhaupt noch Menschen gäbe. Heute bildeten sich die Menschen ein, eine nie zuvor erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben. Und was produzierten sie? Eisenschrott. Es brauche nicht viel Vorstellungsvermögen, um all die Seilbahnen, all die Liftstationen als Ruinen zu sehen, die genauso sinnlos im Gelände herumstünden wie die Eisenmänner.
"Horizon Field" schrie er plötzlich so laut, dass die Schafe, die ihn umdrängten, auseinander liefen. Nach einer Pause meinte er: "Ich durfte nur die Hauptschule besuchen, habe also nie wirklich Englisch gelernt. Aber so dumm bin ich nicht, dass sich nicht wüsste, was all den Horizon-Menschen durch den Kopf geht. Vermessen und vermarkten." Das sei das wahre "Horizon Field", das, was sich am Horizont abzeichne, an der Grenzlinie zwischen den sichtbaren Erhebungen im Hintergrund und dem Himmel. Die Eisenmänner, an denen er vorbeigekommen sei, blickten alle in die Ferne, nicht einer von ihnen sei einer Felswand zugekehrt, dem Naheliegenden. Jeder von ihnen schaue in eine andere Richtung, in eine andere Ferne. Das sei ihnen gemeinsam. Wie sie so allein dastünden, da hafte ihnen etwas Mönchisches an. Ein solcher Eindruck täusche. Die Aufmerksamkeit wahrer Mönche gelte dem Unscheinbaren, dem Naheliegenden. Die rostigen Eisenmänner stünden da, als seien sie für alle Ewigkeit gemacht. Dabei werde da oben alles schon bald verrosten, einstürzen, umstürzen, zusammenbrechen, Hotels, Lifte, Seilbahnen. Das entzweigebrochene steinerne Taufbecken in der Kirche sei alles andere als ein Zufall. Es werde hier nicht viel anders aussehen als in manchen alpinen Gegenden, in denen noch vor wenigen Jahrzehnten Silber, Kupfer und Zink abgebaut worden sei. Und was sehe man dort heute? Eine Wüstenlandschaft, Bauwerke, deren Dächer längst eingestürzt seien, verrostete Gesteinsmühlen wie andere riesige Maschinen, die aus Geröll ragten, verbeulte Loren, von Lawinen in die Gegend gestreut, da und dort noch Schienen.
Jetzt hätten sie auch da oben, ja, da oben, wo man noch vor hundert Jahren in größter Armut gelebt habe, es nicht erwarten habe können, dass der Winter zu Ende ginge, die Philosophie entdeckt. Aber ganz gegen frühere Gewohnheiten sinnierten, philosophierten sie nicht mehr selbst, das hätten sich die Leute da oben längst abgewöhnt. Sie seien so auf den Hund gekommen, dass sie sich Philosophen zukaufen müssten wie Bauern Kraftfutter oder Seilbahnbetreiber Schmierfette, um Walzen und Rollen instand zu halten. Über Landschaft oder über am „Horizon“ sich Abzeichnendes werde da philosophiert, damit sich noch mehr Gewinn herausschlagen lasse. Was nur möglich sei, betrachte man die alpine Landschaft neu, denn nur so fänden sich bislang unerschlossene Nutzungsformen. Nicht dem Bedrohlichen, nicht dem Naheliegenden werde Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht viel anders schmücke man sich mit Kunst, freilich ohne selbst Kunst schaffen zu können, unfähig Schönes überhaupt zu sehen. Dabei läge Schönheit überall herum, nur sehen müsse man sie. Da bedürfe es keiner Eisenmänner. Nur wem das wirklich Schöne fremd sei, der könne auf die Idee kommen, da oben Eisenmänner aufzustellen.
Aber selbst den Eisenmännern könne er eine gewisse Schönheit nicht absprechen, jedoch um das zu sehen, müsste man sie mit ganz anderen Augen betrachten, vor allem den ganzen Kunstunsinn vergessen. Selbst Ruinen könnten schön sein, sogar im größten Elend, in der furchtbarsten Verlorenheit könnten sich Fenster des Schönen auftun. Was hielte uns sonst am Leben? Wie auch immer, er kenne sich da oben besser aus als all die eingeflogenen Philosophen, die von Landschaft sprächen, denen aber jedes Gelände fremd sei.
Was er denn schön fände, fragte ich ihn. Es könne ihn ein Glücksgefühl überfallen, wenn er abends nach getaner Arbeit den Schafen zusehe, wie sie zur Ruhe kommen. Als schön könne er etwas empfinden, das ihm auffalle, woran er jahrzehntelang gedankenlos vorbeigegangen sei. Oder einen Klang, der sich ihm mitteile, nicht nur Geräusch sei. Es sei nicht so, dass er den Eisenmännern so gar nichts abgewinnen könne. Dass die Eisenmänner jeweils auf exakt 2039 Metern über dem Meeresspiegel positioniert seien, das gefalle ihm, habe er sich doch als Bub, als man ihn einmal da oben nachts während eines heftigen Gewitters in der Gegend der Höllenspitze geheißen habe, nach oben zu steigen, um nach dem Vieh zu sehen, ähnlichen Gedanken hingegeben. Damals habe er sich in seiner Verzweiflung und Angst nicht nur gefragt, warum immer nur er geschickt werde, keiner der Größeren, sondern auch, warum noch niemand auf die Idee gekommen sei, all die Bergspitzen abzugraben, da oben Ebenen zu schaffen, warum nicht auf einer Seehöhe von 2039 Metern, damit man nicht nachts hinaufsteigen müsse, um das Vieh auf sichere Flächen zu treiben. Machte man das, dann würden statt Bergspitzen Kegelstümpfe herumstehen.
Er habe in seinem Leben vieles gemacht, in früheren Jahren während der Wintermonate da oben auch Liftbügel unter Mädchenärsche geschoben, natürlich nicht nur unter Mädchenärsche, aber die Mädchenärsche seien ihm besonders in Erinnerung geblieben, nicht nur aus gut nachvollziehbaren Gründen. Die Mädchenärsche hätten ihm nicht zuletzt deutlich gemacht, aus einer ganz anderen Welt zu kommen. Ein unüberbrückbarer Abstand. Auch deshalb denke er anders über die Eisenmänner als andere. Er leiste auch vieles, aber das, was er leiste, das vermöchten „Horizon“-Menschen nie zu sehen. In einem Nebenverdienst habe er später in einem großen Schlachtbetrieb gearbeitet, sei dort an der Trommel gestanden. Kaum habe ein Rind seinen Kopf aus der Trommel gesteckt, schon habe es "Pumm" gemacht, auf seinen Handgriff hin, ein weiterer Handgriff, und schon habe sich die Trommel gedreht, sich entleert, übergeben, um sofort in die Ausgangsstellung zurückzukehren. Ganze Vormittage lang ein und dieselben Bewegungen wie an den Liften. Stets dieselben Handgriffe. Da oben röche es zwar nicht nach Blut, aber letztlich sei da wie dort alles recht ähnlich organisiert und durchkalkuliert. Was zähle ein Rind, was ein Mädchenarsch? Auf die Masse und größtmögliche Geschwindigkeit komme es an, auf die möglichste Minimierung aller Reibungsverluste. Weil das die wahre Ästhetik sei, brauche es philosophische Wolkengebilde und Eisenmänner, die von sich behaupten, bis in alle Ewigkeit in die Ferne zu starren. Nein, er sei immer auf dem Boden geblieben, habe auf dem Boden bleiben müssen. Er könne nur so viele Schafe haben, wie er durch den Winter bringe, wie er im Auge behalten könne.
Natürlich neige er dazu, in seinen Kunstbetrachtungen diverse Rechnungen anzustellen. Er wisse nicht, wie viele Hubschrauberflüge nötig gewesen seien, um den Beton für die Fundamente da hinaufzuschaffen, all die Eisenmänner aufzustellen. Er komme nicht umhin, solches mit Schafen zu verrechnen. Überschlagsmäßig ließen sich, er habe es sich durch den Kopf gehen lassen, würden all seine Schafe geschlachtet, bestenfalls zweieinhalb Eisenmänner aufstellen lassen, wobei er Herstellungskosten, nötige Transporte, Honorare für Rechtsanwälte, Graphiker, Werbefachleute und dergleichen gar nicht mitgerechnet habe. Und all das für rostige Figuren, für die sich schon in absehbarer Zeit kein Mensch mehr interessieren würde. Da müsse er sich nach dem Wert seiner Arbeit fragen.
Wir unterhielten uns lange. Schließlich meinte er: "In wenigen Jahren werde ich mit den Schafen aufhören müssen. Niemand wird meine Arbeit fortsetzen. Die steilen Hänge, um die ich mich so lange gekümmert habe, werden versteppen, Wald wird aufkommen. Kaum jemand wird das bemerken. Menschen werden aus dem Fenster blicken, eine Landschaft vor sich haben und glauben, so habe es hier immer ausgesehen." Als ich wieder ins Auto stieg, da musste ich an die beiden abgängigen Lämmer denken. Welcher Bauer sucht denn heute noch nach zwei fehlenden Lämmern? Aber er meinte ja, wenn man etwas mache, dann müsse man es genau machen. Ich fühlte mich beschämt, zumal ich selbst oft genug über alpine Landschaften und ähnliches geschrieben habe, selbst über Antony Gormleys "Horizon Field". In unserer Überheblichkeit neigen wir nur zu schnell dazu, vermeintlich einfachen Menschen das Denken abzusprechen.