Ausschnitt des Buchumschlags

KIEPENHEUER & WITSCH VERLAG

Prämierter Debütroman

Tess Gunty: "Der Kaninchenstall"

Die 30-jährige US-Amerikanerin Tess Gunty veröffentlichte im Vorjahr ihren Debütroman "Der Kaninchenstall" und gewann damit den National Book Award for Fiction - als zweitjüngste Preisträgerin nach Philip Roth. Roman und Autorin werden seither international gefeiert, vielfach übersetzt und von Interview zu Interview gereicht. Nun hat Sophie Zeitz das vielstimmige Porträt einer Kleinstadt im Rust Belt auch ins Deutsch übersetzt.

Tess Gunty

AP/EVAN AGOSTINI

Tess Gunty

Eine Mietskaserne in der fiktiven Kleinstadt Vacca Vale wird von allen nur "Der Kaninchenstall" genannt - wegen der Kaninchentapeten an den Wänden und der Assoziation, die von den Wohnbedingungen geweckt wird. Einst war die Stadt Firmensitz einer Luxusautomarke, nun scharren die Investoren in den Startlöchern, um leere Fabrikhallen, heruntergekommene Stadtviertel und das angrenzende Erholungsgebiet wieder attraktiv zu machen, wie es heißt.

Die 18-jährige Blandine zählt zu den vehementesten und engagiertesten Gegnerinnen des Projekts. Ihren Namen hat sie sich selbst gegeben, nach einer französischen Mystikerin aus dem 2. Jahrhundert. Sie verehrt diese Blandina und noch inniger Hildegard von Bingen, ist zerbrechlich dünn, bleich und magisch. Zumindest in den Augen ihrer drei Mitbewohner Jack, Todd und Malik, die die Waise in einem Workshop der Jugendwohlfahrt kennenlernte, und die sie in einer schrecklichen Julinacht fast umbringen.

Überbordende literarische Polyphonie

Doch das alles erfährt man erst spät in diesem polyphonen, vielgestaltigen Werk, das ambitioniert und beherzt in die beengten, nicht klimatisierten Wohnungen, rotierenden Gehirne und brüchigen Seelen der zahlreichen Charaktere blickt.

Aus weit abgelegenen Ecken führt die Erzählerin ihre Figuren diametral quer durch die ehemalige Industriestadt aufeinander zu. Sie taucht ein in Biografien voller Schicksalsschläge und Pechsträhnen, in Kindheiten, die von elterlicher Vernachlässigung und Spott in der Schule geprägt waren, in Leben voller Selbstzweifel und Selbstüberschätzung, bevor nach und nach jede Figur ihren Platz und ihre Rolle in der Erzählung einnimmt. Manche als Erzähler, manche als skurrile Nebendarstellerinnen, andere als Motoren der Handlung, zuvorderst die mysteriöse Blandine.

Alles wird erzählt, auf jede erdenkliche Art

Als Begleitgetöse reicht die 30-Jährige eine thematische Fülle von Kapitalismuskritik und sozialer Ungerechtigkeit über Machtmissbrauch und Unterdrückung, bis zur mangelnden Chancengleichheit trotz brillanter Intelligenz, wie sie die elternlose Blandine - Mutter drogensüchtig, Vater unbekannt - verkörpert. Von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gereicht, landet sie dank eines Stipendiums dennoch an der Eliteschule, die sie allerdings nach der kurzen Affäre mit einem Lehrer abbricht und fortan in einem Kaffeehaus und Diner arbeitet.

Buchumschlag

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Gunty schildert die Begegnung in einer rund 50-seitigen Episode, die fast als eigenständige Novelle durchgehen könnte, und von zahlreichen anderen Textsorten umgeben ist. Darunter: Pietätlose Postings unter einem Online-Nachruf, ein sonderbares Beichtgespräch, bei dem sich mittendrin die Rollen vertauschen, Fragmente einer Zeugenaussage, und schließlich ein Schwarz-Weiß-Comic, das die schreckliche Schlüsselszene wortlos festhält.

Mitleiden, -leben und -denken wird belohnt

Besonders beeindruckend ist Guntys behutsamer Umgang mit ihren Figuren: die Zärtlichkeit, mit der sie das Zusammenleben des alten Ehepaars beschreibt, die Einfühlsamkeit, mit der sie die Furcht einer einsamen Frau vor der Öffentlichkeit schildert oder die Faszination, mit der sie den von Ticks und Komplexen gebeutelten Sohn einer egomanischen Schauspielerin beobachtet.

Dieselbe Anteilnahme verlangt Tess Gunty allerdings auch von ihrer Leserschaft: Mangelnde Aufmerksamkeit wird mit Verwirrung bestraft, rege Anteilnahme mit immer neuen spannenden Cliffhangern und Querverbindungen belohnt, bevor schließlich in nämlicher Julinacht alle Fäden im titelgebenden Kaninchenstall zusammenlaufen. Ein mutiges, kompromissloses, stellenweise zu ambitioniertes und dennoch ganz und gar einnehmendes Debüt.

Service

Tess Gunty, "Der Kaninchenstall", Roman, übersetzt von Sophie Zeitz, Kiepenheuer & Witsch
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