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1929-2023
Milan Kundera ist tot
Der große Milan Kundera ist tot. Der französisch-tschechische Weltbürger unter den Literaten des 20. Jahrhunderts verstarb am Dienstag im Alter von 94 Jahren, wie tschechische Medien am Mittwoch berichten. Spätestens mit seinem internationalen Bestseller "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" schrieb sich der am 1. April 1929 in Brünn geborene Autor in die Weltliteratur ein.
12. August 2023, 02:00
Der Roman ist eine rätselhafte und paradoxe Welt
TV-Hinweis
Arte zeigt ab sofort und am 16. Juli, 23:15 Uhr die Doku Milan Kundera - Die Ironie des Seins
ORF1 in "Kulturmontag" am 17. Juli, 23:15
In seinen Romanen spürte Kundera den großen und kleinen Mysterien der menschlichen Existenz nach. Fans wie Kritiker schätzten seinen ebenso klaren wie ironischen Prosastil. Schlussendlich war es aber Philip Kaufmans Verfilmung von "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" aus dem Jahr 1987, die Kundera endgültig den Weg zu internationaler Berühmtheit bahnte. Die erotische wie tragische Liebesgeschichte zwischen dem Chirurgen Tomas und der Kellnerin Teresa vor dem Hintergrund der Niederschlagung des Prager Frühlings berührte viele Menschen - und spielt vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichte.
"Milan Kundera ist einer der besten Beispiele dafür, wie viele Verrenkungen ein Schriftsteller anstellen musste", Erich Klein
Über Milan Kunderas Werk, dessen politische Dimension zwischen Kommunismus, Prager Frühling und französischem Exil spricht der Literaturkritiker Erich Klein mit Benno Feichter im "Kulturjournal".
Parteiausschluss und Emigration
Franz Kafka und Robert Musil seien seine literarischen Bezugspunkte hat Milan Kundera einmal betont und der Roman - das sei für ihn eine rätselhafte und paradoxe Welt. Eine Welt, der er als großer Zweifler und Skeptiker begegnete. 1929 in Brünn geboren, war Kundera Ende der vierziger Jahre noch voller Enthusiasmus in die Kommunistische Partei eingetreten. Sein erster Roman "Der Scherz", 1967 wurde als literarische Abrechnung mit der stalinistischen Phase in der ehemaligen CSSR gelesen und er wurde auch noch verfilmt - kurz bevor die Truppen des Warschauer Paktes Prag einmarschierten.
Kundera selbst, einst Mitglied der Kommunistischen Partei, fiel nach dem Warschauer-Pakt-Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 in Ungnade. Er lebte seit 1975 in Frankreich, wo er später an den Universitäten in Rennes und Paris lehrte.
Die Existenz eines Daueremigranten deprimierte mich. Dennoch kann ich mich nur dort aufhalten, wo ich arbeiten kann.
1979 wurde ihm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft entzogen, 1981 erhielt er dann die französische. Ab 1993 schrieb Kundera seine Bücher in französischer Sprache. Zu seiner früheren Heimat unterhielt er nur beschränkte Kontakte und erlaubte auch Übersetzungen seiner Bücher in die tschechische Sprache nicht. Erst im Alter von 90 Jahren erhielt er die tschechische Staatsbürgerschaft zurück.

Milan Kundera, 1979
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Seine Bücher wurden zu Bestsellern - Meisterwerke wie "Das Leben ist anderswo", "Abschiedswalzer" und 1984 dann "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins". Ein Roman, der vor dem Hintergrund des niedergeschlagenen "Prager Frühlings" spielt und der Milan Kundera weltberühmt machte. Als Kritik am kommunistischen System wollte er seien Romane nicht verstanden wissen.
Der Romanschriftsteller muss von Zeit zu Zeit schweigen können
"In unserem - dümmlicher Weise - völlig politisiertem Jahrhundert verstehen die Leute nicht mehr einen Roman wirklich als Roman zu lesen. Sie wollen vielmehr im Roman die Illustration vereinfachter politischer Thesen sehen. Auch deshalb muss der Romanschriftsteller von Zeit zu Zeit schweigen können, um seine Romanschöpfungen gegen vereinfachende und politisierende Interpretationen zu schützen", so Kundera. Und er schwieg konsequent. Nach 1985 gab er - wenn überhaupt - nur noch schriftliche Interviews. Auch als 2008 schwere Vorwürfe gegen ihn wegen Verrats eines Regimegegners an die kommunistische Staatssicherheit der damaligen Tschechoslowakei laut wurden, begnügte er sich mit einem schlichten Dementi. Als Antwort auf die Stasi-Vorwürfe wurde Kunderas Essayband "Une Rencontre" ("Eine Begegnung") interpretiert - und als sein endgültiger Abschied von Tschechien.
Privatbibliothek nach Brünn
Im Jahr 2020 überließ er seine Privatbibliothek und sein Archiv der Mährischen Landesbibliothek in Brünn (Brno), die heuer schließlich eingeweiht wurde. "Ich denke, dass Bücher in die Bibliothek gehören, also ist es logisch, dass ich sie der Mährischen Landesbibliothek schenke", sagte Kundera damals.
Kunderas Frühwerk, wie die intimen Gedichte der "Monologe" von 1957 oder das Theaterstück "Die Schlüsselbesitzer", 1963 in Tschechien mit dem Staatspreis ausgezeichnet, gehören nicht zum Kanon. Kunderas letzter Roman, "Das Fest der Bedeutungslosigkeit", erschien 2015 auch auf Deutsch. Der Autor blieb sich selbst treu: Der Leser beobachtet vier ältere Herren auf ihren Streifzügen durch Paris, während sie über den Philosophen Hegel nachdenken oder Theorien über die Erotik des weiblichen Bauchnabels aufstellen. Die Kritiken reichten vom "Alterswerk eines großen Autors" bis hin zu "langweilig, unlebendig, ausgedacht und leer".

Milan Kundera, 2010
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Zahlreiche Auszeichnungen
Immer wieder wurde er auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis genannt. Sein Rang als Klassiker der Weltliteratur wurde jedenfalls zementiert, seit sein Werk in der prestigeträchtigen französischen Edition "La Pleiade" (Siebengestirn) erschienen ist. Zu Lebzeiten wurde diese Ehre, die sich mit Ledereinband und Goldschnitt in die Vitrine stellen lässt, bisher nur wenigen anderen Autoren zuteil. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie den "Prix Médicis", den Ritterorden der französischen Ehrenlegion und den Jerusalem-Preis. Auch in Österreich wurde Kunderas Œuvre geschätzt, für das er unter anderem 1987 den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur erhielt.
Text: APA/Red.; Audios: ORF
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Le Monde - Milan Kundera, romancier de l’existence, est mort
Lidove Noviny - Kundera jako autor definitivně zmizel, jeho dílo konečně přichází