Szenenfoto aus "Der kaukasische Kreidekreis"

SALZBURGER FESTSPIELE/MONIKA RITTERSHAUS

Salzburger Brecht als Ö1 Hörspiel

Der kaukasische Kreidekreis

Am Samstag, den 19. August 2023, steht im Ö1 Hörspiel Bertolt Brechts "Der kaukasische Kreidekreis" als Hörspielfassung einer Theaterfassung der Salzburger Festspiele 2023 auf dem Programm. Besetzt ist das Stück mit den Schauspielerinnen und Schauspielern, der Festspielinszenierung: Ensemblemitglieder des Schweizer Theaters HORA, kognitiv beeinträchtigte Menschen, die das Werk nach eigenen Regeln umsetzen. Regie führte die Mitbegründerin der Theatergruppe Rimini Protokoll, Helgard Haug, von der auch Konzept und Textfassung stammen.

Brechts Moralstück über die Frage wahrer mütterlicher Liebe feierte am 12. August 2023 bei den Salzburger Festspielen Premiere und stieß bei der Kritik auf durchwegs positive Aufnahme.

"Helgard Haugs Neuinszenierung von Brechts 'Kreidekreis' wirft neue Ideen auf", schreiben die "Salzburger Nachrichten". "So wird das schlichte Lehrstück zum klugen Spiel", lobt "Die Presse". "Helgard Haug und die Horas legen dieser archaischen Geschichte viele Fährten in die Gegenwart. Brecht hätte das bestimmt gefallen", schreibt "Der Standard". "Was für ein Gewinn" titelte die "Süddeutsche Zeitung". "Seit 30 Jahren arbeitet das Theater Hora in diesen Spuren, jetzt kam es beim prestigeträchtigsten Kunstfestival der Welt ganz entspannt an", lobt "Die Welt". "Einem inklusiven Schweizer Theater gelingt der große Coup", berichtet der Schweizer Rundfunk SRF.

Brecht - verfremdet

Salzburgs Schauspielchefin Bettina Hering ist es gelungen, Brechts Verlag und Erben, die für ihre Penibilität im Umgang mit den Texten bekannt sind, für das Projekt zu gewinnen. Man einigte sich auf Lockerungen und damit stand der Weg frei für eine eigene Fassung des "Kreidekreises", denn ein gewöhnliches Inszenieren bzw. Spielen des Textes stand von Anfang an nicht zur Debatte. Sowohl das Kollektiv Rimini Protokoll als auch das Theater Hora haben ihre jeweils eigene Philosophie, wenn es darum geht, Texte zu erarbeiten.

Robin Gilly und Remo Beuggert

Robin Gilly und Remo Beuggert als Richter

SALZBURGER FESTSPIELE/MONIKA RITTERSHAUS

Trailer zum Hörspiel

Die Horas aus Zürich sind seit 30 Jahren Pioniere auf ihrem Gebiet, denn das Ensemble besteht aus unterschiedlich stark kognitiv beeinträchtigten Personen. Man ist also hier und da auf technische Hilfsmittel angewiesen, wie beispielsweise In-Ear-Kopfhörer, durch die die Spieler Unterstützung für Text und Ablauf bekommen. Doch das minderte weder die Spielfreude der Schauspieler, noch den Genuss des Publikums ihnen dabei zuzusehen.

Helgard Haugs Idee war es, Text und Handlung Brechts komplett auseinander zu nehmen. In wiederholten Proben wurde die Frage der Mutterschaft immer aus einem anderen Blickwinkel gestellt. Welche Person käme noch als Mutter in Frage? Ist Liebe oder Luxus wichtiger für ein Kind? Und letztlich auch, ob die Magd Grusche (Simone Gisler) das Kind aufgenommen hätte, wäre es krank gewesen und wenn ja, hätte die Frau des Gouverneurs (Tiziana Pagliaro) es dann überhaupt bekommen?

Helgard Haug

Helgard Haug ist Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin des Theaterlabels Rimini Protokoll. Mit zahlreichen internationalen Preisen für ihre herausragenden Arbeiten im Bereich Bühnenkunst, Intervention, szenische Installation geehrt, wurde Helgard Haug für ihre Hörstücke mehrfach mit dem "Hörspiel des Monats", mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD und dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet.

MARA VON KUMMER

Helgard Haug im Gespräch mit Katharina Menhofer

Während Inszenierungen von Rimini Protokoll ihren Reiz daraus beziehen, Themen mit nicht-professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern zu erarbeiten, verstehen sich die HORAs durchwegs als professionell. Das war auch für Regisseurin Helgard Haug eine neue Erfahrung, wie sie im Gespräch mit Katharina Menhofer für die Ö1 Sendung "Intermezzo" bekannte. Mit ihrem Versuch, Brecht nicht nur durch die Folie der Beeinträchtigung zu betrachten, sondern bei ihrem Personal Rimini-gemäß in die Tiefe zu graben, sei sie "erst mal komplett vor die Wand gefahren, weil es immer hieß 'Nee, das ist jetzt aber zu persönlich oder zu privat'".

Das Gespräch fand eine Woche vor der Salzburger Premiere statt.

Brecht war nicht der erste, der sich den Stoff um den Streit zweier Mütter um ein Kind zur Brust nahm. Wer ist die rechtmäßige Mutter? Die wohlhabende leibliche, die das Kind verließ, oder die mittellose Ziehmutter, die es unter Einsatz ihres Lebens aufzog? Seit dem alten Testament ist es ein Richter, der mit dem Urteil betraut wird. "Gut, ich mach die Probe noch einmal, dass ich's endgültig hab", sagt Richter Azdak, bevor er das Kind ein zweites Mal in den Kreidekreis bittet und die beiden Mütter ein zweites Mal auffordert, zu beweisen, welche die wahre sei.

Was aber, wenn dem Kind die Wahl übertragen wird? In der Salzburger Inszenierung und im Ö1 Hörspiel wird der Richter von Remo Beuggert gespielt. Von ihm kam bei den gemeinsamen Proben die Idee, die Brecht'sche Struktur aufzubrechen. Anstatt die Mütter versuchen zu lassen, das Kind mit einem aus Kreide gemalten Kreis zu sich zu ziehen, wollte er lieber das Kind fragen, wen es als seine Mutter sehe.

Und so bieten sich zwei Mütter an, konkurrieren um einen Job, einen Titel, eine Beziehung, eine Aufgabe, einen Nutzen - für welche soll das Kind sich entscheiden? Und wer steht hier noch zur Wahl?

Service

"Der kaukasische Kreidekreis" nach Bertolt Brecht - von Helgard Haug mit dem Theater HORA
Hörspielfassung der Inszenierung der Salzburger Festspiele 2023
Samstag, 19. August 2023, 14:00 Uhr

Es wirken Remo Beuggert, Robin Gilly, Simone Gisler, Tiziana Pagliaro und Simon Stuber mit, Musik: Barbara Morgenstern. Das Hörspiel ist eine Produktion des Hessischen Rundfunks und des ORF in Zusammenarbeit mit den Salzburger Festspielen, Rimini Apparat, Theater HORA sowie HAU Hebbel am Ufer Berlin, Theater Winterthur, Staatstheater Mainz & Grenzenlos Kultur Theaterfestival 2023.

Die Musik stammt von Barbara Morgenstern. Sie lebt seit 1994 in Berlin, wo sie als Komponistin, Produzentin und Live-Musikerin tätig ist. Sie veröffentlicht seit 1998 Solo-Alben, die zwischen Elektronik und Songwriting liegen. Seit 2012 arbeitet sie eng mit der Theatergruppe Rimini Protokoll zusammen, bisher sind sieben gemeinsame Produktionen entstanden.

Salzburger Festspiele - Der kaukasische Kreidekreis
Theater Hora
Die Welt - Ohne jeden Bonus
SRF - Theater Hora in Salzburg
Nachtkritik - Minutenmagie

Programmtipp

Eine weitere Koproduktion mit den Salzburger Festspielen folgt mit "Die Wut, die bleibt" der Salzburgerin Mareike Fallwickl am 26. August 2023 um 14:00 Uhr in Ö1. Die theatrale Festspielvariante unter Regie von Jorinde Dröse erlebte am 18. August 2023 im Landestheater ihre Premiere. Für die Radioedition des feministischen Familiendramas zeichnet Leonhard Koppelmann verantwortlich. Gleichgeblieben ist jedoch die Riege des Bühnenpersonals rund um Johanna Bantzer und Anja Herden.