Thomas Wally am Klavier im Wiener Funkhaus

Thomas Wally - ORF/JOSEPH SCHIMMER

Neue Musik auf der Couch

Henri Dutilleux: "Ainsi la nuit"

Ein sechsstimmiger Akkord eröffnet die Komposition und findet sich über das gesamte Werk verteilt immer wieder: entweder in wörtlicher Form, in Variationen oder auch nur in einzelnen Teilen.

Dieser Eröffnungsakkord bietet Anlass zu vielfältiger Betrachtung. Mit der tonalen Brille gelesen, ist Cis-Gis-f-g-c'-d' ein erweiterter großer Durseptakkord, je nach enharmonischer Verwechslung einzelner Töne ein großer Cis- oder ein Des-Dur-Septakkord mit hoher, "lydischer" Quart (g) und erniedrigter Non (d). In dieser Lesart rückt der Klang in die Nähe zur Teiltonreihe, und zwar als Ausschnitt einer Teiltonreihe auf Cis/Des; so sind diese sechs Töne als 4., 6., 10., 11., 15. und 17. Teilton deutbar.

Henri Dutilleux

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Henri Dutilleux

Die Instrumentation des Klanges hebt zwei Intervalle besonders hervor, und zwar die Quint und die große Sekund. Alle Instrumente spielen eines dieser beiden Intervalle und dies von unten nach oben alternierend: das Violoncello die Quint (Cis-Gis), die Viola die große Sekund (f-g), die 2. Violine die Quint (g-d') und die 1. Violine die große Sekund (c'-d'). Die beiden Töne, die in dieser Instrumentation verdoppelt sind, bilden wieder eine Quint: g (Viola und Violine 2) und d (Violine 2 und Violine 1).

Die Konzentration auf die tonale Deutung und die Schichtung der Intervalle verdeckt allerdings ein wenig den Blick auf den Spannungsgehalt des Klanges, der insgesamt dreimal die starken Spannungsintervalle der kleinen Sekund bzw. der großen Sept enthält: Cis-c', Cis-d' und Gis-g'.

Dieser "Signature"-Klang findet sich in einem kurzen Eröffnungsteil, der – im Gegensatz zu den folgenden Sätzen – keine Bezeichnung trägt, jedoch wichtiges Material exponiert: ein aufsteigendes (oktatonisches) Akkordthema, welches auch variiert, nämlich aufgelöst in Pizzicato-Arpeggi erklingt, die Idee eines Zentraltones (d'), eine Variation des Eröffnungsakkordes, und nicht zuletzt die Idee des horizontalen und vertikalen Spiegels. Eine Idee, die vor allem im 2. Satz ("Miroir d'Espace") die gesamte Struktur des Satzes bildet.

Der titellosen Eröffnung folgen sieben Hauptsätze, denen viermal eine sogenannte "Parenthèse" zwischengeschaltet ist, deren Wichtigkeit weit über einen übergehbaren Einschub hinausgeht. Eine Eröffnung also, sieben Hauptsätze und vier "Parenthèses", deren Atmosphäre poetisch um die Idee der Nacht kreist. "Ainsi la nuit", ein Auftragswerk der Koussevitzky-Stiftung, wurde 1977 vom Quatuor Parrenin uraufgeführt, die amerikanische Erstaufführung erfolgte 1978 durch das Juilliard String Quartet.

Text: Thomas Wally

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