Weibliche Arbeiterin an der Flex

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Radiokolleg

Facharbeiter:innen verzweifelt gesucht

Arbeiterlosigkeit wird das Thema des 21. Jahrhunderts. Fachkräfte und Hilfsarbeiter fehlen in fast allen Branchen. Am Bau, im Tourismus, in der Pflege, im Krankenhaus. Diese Zukunft wurde uns aber nicht prophezeit: Sollten die Arbeiter und Arbeiterinnen nicht völlig durch Roboter ersetzt und überflüssig werden? Nun werden sie aber mehr gesucht denn je.

Bis jetzt gab es genügend Arbeitskräfte. Jetzt fehlen Fachkräfte und Arbeiter:innen. „Die Arbeiterlosigkeit ist neben dem Klimawandel die größte Gefahr unserer Zeit: für unseren Wohlstand, für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, für das Funktionieren der Demokratie“, meint Sebastian Dettmers, Autor des Buchs "Die große Arbeiterlosigkeit".

„Wir haben nicht nur einen enormen Fachkräftemangel, sondern generell einen großen Mangel an Arbeitskräften.“

Deutschland sucht derzeit eine Million Arbeitskräfte - von Pflegekräften, über Ingenieure bis hin zu Fachkräften im Tourismus. „Überall ist ein Mangel. Ganz massiv in der Gastro. Es ist ein extremes Ringen um Köche. Köche bekommen mittlerweile ein Gehalt, davon können andere nur träumen“, sagt Ursula Friedsam, Tourismuschefin von Bad Reichenhall in Bayern. Die gebürtige Wienerin würde gern im angrenzenden Salzburger Land „fischen“, aber das Problem ist in der Tourismusbranche überall das gleiche. „Wir haben nicht nur einen enormen Fachkräftemangel, sondern generell einen großen Mangel an Arbeitskräften.“

Im österreichischen Tourismus fehlen 30.000 Arbeitskräfte. In der Baubranche haben drei Viertel der Unternehmen Probleme, Arbeitskräfte zu finden. Hotspot ist das Installationsgewerbe. Die Betriebe können ihre Aufträge gar nicht mehr abarbeiten.

Die Bevölkerung in Europa schrumpft

Eine Vermutung liegt nahe: Das muss mit Covid, mit Long-Covid, mit dem Personalabbau während der Pandemie zu tun haben. Mit den Pflegekräften, die den Job wechseln wollen. Doch das ist nur ein kleiner Aspekt des Problems. Das ist nämlich die am besten vorhergesagte Krise aller Zeiten. Seit 20 Jahren kann man die Entwicklung beobachten. Und jetzt trifft sie uns doch überraschend. Die Bevölkerung in Europa schrumpft. Europa steht vor gravierenden demografischen Veränderungen.

Der „wichtigste Treibstoff des Wachstums“ wird knapp – meint Sebastian Dettmers: der Mensch. Um die Bevölkerungszahl in Europa stabil zu halten, gehen die Forscher von einer Geburtenrate von 2,1 pro Frau aus. Aber nirgendwo werden so wenige Kinder geboren wie in Europa. Kein einziges Land kann aus eigener Kraft seine Bevölkerung stabil halten. Österreicherinnen bekommen im Durchschnitt 1,4 Kinder. Deutschland hält bei 1,5 Kindern. Ohne Zuwanderung würde Österreich schrumpfen, und zwar bis zum Jahr 2080 auf 6,7 Millionen Menschen. Zu wenig Junge strömen auf den Arbeitsmarkt, während die Alten aus dem Beruf ausscheiden. Eine einfache Rechnung: In Europa soll bis 2050 eine Lücke von 6,3 Millionen Beschäftigten entstehen. Wir erleben also gerade erst den Anfang des Arbeitermangels.

„Der Arbeitskräftemangel ist gekommen, um zu bleiben“

Zwei Probleme schrauben sich derzeit noch gegenseitig hoch: Klimawandel und Arbeiterlosigkeit. Die Politik in Österreich und Deutschland schreibt die Klimawende vor. Wärmepumpen, Photovoltaikanlagen, Gebäudesanierung - vom Einfamilienhaus bis zum Krankenhaus sollten alle auf grüne Energie umrüsten. Doch die Handwerker und Bauarbeiter dafür fehlen. In Österreich bleibt jede vierte Stelle in der Elektro- und Elektronikindustrie unbesetzt. Der deutsche Zentralverband Sanitär Heizung Klima schätzt, dass rund 60.000 Monteure in Deutschland fehlen.

Leben wir bald in einer Welt, in der Arbeiter die größte Macht haben, in der „Worker´s World“, wie die Wissenschaftler es nennen? Schon jetzt können sich die Bewerber einiges von ihren künftigen Dienstgebern wünschen: Teilzeit oder Homeoffice, alles ist möglich.

Wir sind gewohnt, dass alles reibungslos funktioniert - und erstaunt, wenn wie zum Jahresende nicht mehr alle Busse und Straßenbahnen wegen akuter Personalnot fahren können. Die Wiener Linien suchen bis 2031 insgesamt 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Um auf dem „Beauty Contest“ der Unternehmungen auf dem Arbeitsmarkt zu punkten, attraktiveren sie den Fahrdienst: Die Arbeitszeit wird bei gleichbleibender Bezahlung auf 35 Stunden reduziert. Denn eines ist klar: „Der Arbeitskräftemangel ist gekommen, um zu bleiben“, sagt Alexandra Reinagl, CEO der Wiener Linien.

Service

TV-Tipp: 3sat. 8. November 2023, 20.15 Uhr „Gesellschaft ohne Arbeiter"