Kleobis und Biton

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Ö1 Kunstgeschichten

Kouroi. Ein Collier der Abschiede.

Peter Steiner schlägt einen biografischen Bogen von seinen ersten Reiseeindrücken als junger Mann bis zur Zeit des Lebensrückblicks im höheren Alter. Die Erinnerung an das überlebensgroße antike Statuenpaar der Brüder Kleobis und Biton in Delphi führt den Autor zum Bild des Wolkenkratzerpaars der New Yorker Twin Towers. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

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Als ich das erste Mal die steile Treppe zum Museum von Delphi hinaufstieg, war ich zu jung, um das Lächeln der beiden übermenschlich großen Kouroi auf dem oberen Treppenabsatz in seiner zeitlosen Wucht wahrzunehmen, geschweige denn in mich aufzunehmen. Eile, Unachtsamkeit, mangelnde Reife, ließen mich das bedingungslos gebotene Geschenk unbeachtet rechts liegen und in den Saal mit Resten antiker Statuen und Reliefs eintreten. Was ich dort sah, ist mir im Laufe der Zeit entfallen. Die im Vorbeigehen nur mit einem Blick gestreiften Kolosse aus Stein hingegen behaupteten ihre mit Stummheit sprechende Präsenz.

Jahre vergingen, ehe ich wieder nach Delphi kam. Noch nicht ans Ende der Treppe gelangt, wurde ich von den Blicken der Kouroi so getroffen, dass ich wie angewurzelt stehen bleiben musste, um auszuhalten, was in mich eindrang und sich in mir ausbreitete, und von dem ich bis heute nicht weiß, was es ist. Wie damals, als ich das Museum nicht mehr betrat, sondern daran vorbei den Berg hinaufstieg, immer höher, den Wald unter mir ließ, dem Gipfel des Parnass zustrebte, wo die Erde endete und das Blau des Universums begann, dem das Lächeln in den Gesichtern der Kouroi entstammte - denn diese Ahnung hatte sich inzwischen gefestigt.

Die Geschichte im Hintergrund habe ich später erfahren, auch die Namen der dargestellten Jünglinge, Kleobis und Biton aus Argos, die ihre Mutter im Ochsenkarren fünfundvierzig Stadien weit zum Fest der Hera zogen und nach dem Festmahl von den Göttern mit dem frühen schmerzlosen Tod belohnt wurden. Diese Geschichte tut auch nichts zur Sache, denn es geht für mich ausschließlich um das Gefühl der Zugehörigkeit zu etwas, das über mein einzelnes Leben hinaus existiert, obwohl ich es nicht fassen, nicht begreifen, wohl aber jenseits des Verstandes spüren kann.

Dieses einmal in ein Wesen eingedrungene Gefühl lässt sich nicht mehr beseitigen, wie radioaktive Strahlung, aber ohne deren zerstörerische Wirkung. Man trägt es lebenslang in sich, und es kann, wenn der richtige Moment gekommen ist, geweckt werden, nicht nur von den Kouroi, die es mir einst schenkten, sondern von vielerlei Zeugnissen menschlichen Bemühens, diese Wand um das Sichtbare, Greifbare, Erklärbare zu durchbrechen: optisch, akustisch, oder auch mit der Gestaltung einer dreidimensionalen Form, wie es Polymedes aus Argos vor bald dreitausend Jahren geglückt ist. Da es sich um ein zeitloses Gefühl handelt, ich als der Zeit verhafteter Mensch jedoch Orte und Ereignisse brauche, um mein Lebens-Chaos in einen geordneten Lebenslauf umzuwandeln, speichere ich Orte und Ereignisse, an denen sich das vom Lächeln der Kouroi ausgelöste Gefühl eingenistet hat. Dort kann sich ein Augenblick der Erinnerung frei von Vergangenheit und Zukunft entfalten, ohne das Bewusstsein über seine hautnahen Grenzen zu verlieren. Es sind dies die stillen Höhepunkte im Schatz meiner Erinnerung:

Da ist jener warme Sommertag, an dem ich als Jüngling auf dem Boden meines Zimmers vor der zur Loggia offenstehenden Tür lag, neben mir das nach monatelanger Nachtarbeit erstandene Tonbandgerät, und zum erstem Mal Igor Strawinskys Musik "Le Sacre du Printemps" hörte. Dabei erlebte ich einen von den rhythmischen Klängen ausgelösten Farbenrausch, in einer Vielfältigkeit und trotz minutiöser musikalischer Details ins Gigantische ausufernden Kraft, dass ich mich auf dem Gipfel des Berges Parnass zu befinden glaubte, und doch zitternd und schluchzend auf dem Boden meines Zimmers in der kleinstädtischen Villa lag. Da ist mein Ertrinken im Violett eines Frauenkopfes des Alexej von Jawlensky, als in München das erste Mal nach dem Krieg "entartete Kunst" der Nazizeit zu sehen war. Da sind die dreizehn schwarzen Bilder des durch harte Schicksalsschläge aus der in lieblichen Farben schwelgenden Hofmalerei in den Abgrund menschlicher Kriegsgräuel gestoßenen Francisco de Goya im Prado. Und da sind die Vorfahren der Kouroi, denen ich an verschiedenen Ausgrabungsstätten des Vorderen Orients und Nordafrikas begegnet bin.

Peter Steiner

TIZZA COVI

Peter Steiner wurde 1937 in Baden geboren, wo er heute wieder lebt. Als Geologe leitete er für die Vereinten Nationen Bergbauprojekte in Afrika und Südamerika sowie im Fernen Osten. Als Autor blickt Peter Steiner bis jetzt auf 18 Romane und Erzählbände zurück.

Florentin Groll

PRIVAT

Florentin Groll war nach Stationen an deutschsprachigen Theatern bis 2010 Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater. Seine markante Stimme setzt der 1945 in Vöcklabruck geborene Schauspieler und Theaterregisseur in zahlreichen Fernseh- und Radioproduktionen ein.

Ich denke an meinen Besuch bei den Großvätern der Kouroi, den Memnonkolossen von Luxor. Gerne hätte ich länger verweilt, um den Vorvätern von Biton und Kleobis in ihrer unnahbaren Größe näher zu kommen, aber ich war in Eile, denn das seit 1918 unter italienischer Flagge fahrende Postschiff des einstigen österreichischen Lloyd, mit dem ich in Alexandrien angekommen war, fuhr zwei Tage darauf zur festgelegten Zeit von Port Said in Richtung Beirut ab. Das Schiff durfte ich unter keinen Umständen verpassen. Doch die in die Zeitumstände verwickelten Soldaten der britischen Armee kümmerte das nicht. Sie hatten den Auftrag, wenigstens den Suezkanal vom Zugriff ägyptischer Generäle, die König Faruk verjagt hatten, zu retten. An jedem der in die Hauptstraße führenden Feldwege hielten sie das Taxi an und verlangten Ausweispapiere, leuchteten mir mit der Taschenlampe ins Gesicht, jedes Mal kostbare Minuten vergeudend, so dass ich nahe daran war, den Ausflug zu den Vorfahren der Kouroi zu verfluchen. Ich habe es nicht getan. Zudem bin ich sicher, der Fluch eines siebzehnjährigen, von Neugier und Zeitnot getriebenen Jünglings hätte dem Lächeln der Kolosse am Nil nur ein nachsichtiges Schmunzeln verliehen.

Und da sind, aus neuerer Epoche, die Enkel der Kouroi, die Twin Towers von New York. Ich hatte mich in deren Nähe in Manhattan einige Zeit niedergelassen, so dass mir der Anblick der beiden Türme von allen möglichen Ecken und Straßenfluchten Downtowns ein vertrauter geworden war, etwa vom East Broadway, wo sich unter der U-Bahnbrücke ein chinesisches Restaurant befand, dessen Wirt Crevetten besonders schmackhaft zuzubereiten verstand. Für mich waren diese Türme Kleobis und Biton, in deren Glanz aus Glas und Stahl etwas von der kindlichen Freude mitschwang, mit der meine noch kleinen Söhne von der Plattform des kurz zuvor fertiggestellten Südturmes von oben auf die Welt geblickt hatten.

Der Fall der Türme bedeutete über den Horror der dreitausend Toten hinaus einen mir nahegehenden persönlichen Verlust. Auch die Art, wie ich diesen im Gegensatz zu der übrigen, gebannt vor den Fernsehschirmen sitzenden westlichen Welt erlebte, hebt ihn für mich aus der allgemeinen geschichtlichen Einordnung in einen persönlichen Bereich, der ähnliche Züge zeigt, wie meine Flucht aus Delphi auf den Parnass. Ich hatte an diesem Tag im September des Jahres 2001, von Mastuj in der pakistanischen Provinz Chitral aufbrechend, den Shandur-Pass überschritten und in einem Gehöft nahe Phandar in der Provinz Gilgit für die Nacht haltgemacht. Genau in dieser Stunde schlug das erste Flugzeug in den Nordturm der Twin Towers ein. Die Nacht war kalt, ich fror und fand kaum Schlaf, wartete mit Ungeduld auf die Sonne, die endlich die vereisten Gipfel des Hindukusch rot färbte. In dieser Umgebung ahnte niemand etwas vom Drama in New York, auch Tage danach nicht, und das vielerorts in der Gegend bis heute. Als die Türme zusammenbrachen, lag ich wach unter sternklarem Himmel. Der Gestank nach Abtritt in dem mir zugedachten Raum hatte mich veranlasst, das Bett ins Freie zu zerren, wo die Temperatur unter den Gefrierpunkt sank.

Der Morgen war wieder sonnig und still, Äonen entfernt vom Entsetzen und der weltweiten Hysterie um das Geschehen in New York. Wir fuhren talauswärts, vorbei an einem Gehöft nahe am Fluss, wo zwei Frauen Wäsche schwemmten. Ein Bild tiefen Friedens, doch plötzlich erhob sich eine der Frauen und stürzte sich ins Wasser, im Versuch, wie ich jetzt begriff, ein davonschwimmendes kleines Bündel zu erreichen. Das misslang, die Wellen waren schneller als sie, das Bündel driftete weiter ab. Mein Fahrer bremste, wir rannten über die Wiese an den Fluss, sprangen ins Wasser und konnten das Bündel gerade noch herausfischen, bevor es in die heftige Strömung der Flussmitte geriet und für immer verloren ging. Es war der Säugling der jungen Mutter, der wir das Bündel in die Arme drückten und zum Wagen zurückliefen. Über die Wiese kamen zwei Männer gerannt, aufgeschreckt von den schrillen Schreien der Frauen, und es war besser, nicht mehr anwesend zu sein, denn in ihrer Verzweiflung hatten die Frauen ihre Gesichtstücher fallen lassen, und wir, fremde Männer, hatten ihre unbedeckten Gesichter gesehen. In einer der Gegenden, wo Ehre mehr zählt als Leben, erleichterte es uns merklich, rasch den Ort des Zusammentreffens zu verlassen. Mit nassen Schuhen und Hosen fuhren wir los, lange Zeit schweigsam, doch dann zeigte sich ein Lächeln im Gesicht meines Fahrers, ein vertrautes Lächeln, denn es glich dem Lächeln der Kouroi von Delphi. Dazu leise in gebrochenem Englisch: "This children!"

Denke ich daran, kann ich nicht ein lautloses Ticken der Zeit verhindern, das mir sagt, das gerettete Kind sei nun im Alter von Biton und Kleobis, als diese ihre Mutter rechtzeitig zum Fest der Göttin Hera gebracht hatten und mit dem ewigen Schlaf belohnt wurden. War es ein männlicher Säugling - wir übergaben ja nur ein Bündel - trägt er heute vielleicht eine Kalaschnikow und wacht darüber, dass keines der jungen Mädchen unverhüllt das Haus verlässt, um Lesen und Schreiben zu lernen. War es ein Mädchen, kniet es vielleicht gerade am Fluss an der Stelle, an der ihrer Mutter einst das Bündel entglitt, schwemmt Wäsche und summt für ihren Säugling ein Lied aus der Zeit ihrer Großeltern. Vielleicht liegt das Geheimnis der Zeitlosigkeit nicht zuletzt darin, dass sie sich einmal vorwärts und dann wieder rückwärts bewegt. Und es bedarf eines Polymedes, Strawinskys, Jawlenskys oder Goyas, um sie einzufangen und damit erst sichtbar, hörbar und fühlbar zu machen, auch wenn Musik und Kunst nur Ausdruck dessen sind, was wir nie ergründen werden. Der Raum, in dem ich einst zu den Klängen von "Le Sacre du Printemps" auf dem Boden lag, war erfüllt vom frühsommerlichen Licht der Jugend. Viele Jahrzehnte sind seither verstrichen. Beschenkt mit dem Glück, ohne Krankheit und Beschwerden alt geworden zu sein, habe ich vor einigen Jahren damit begonnen, mich von meinen Freunden aus der zeitlosen Welt der Kunst zu verabschieden, mich in Stille zu bedanken für die Bereicherung, die im Gegensatz zu allem materiellen Reichtum kein der Sorge bedürftiges Gewicht mit sich bringt. Die Erinnerung ist ein gewichtloser Reichtum, etwas, das ohne Materie auskommt, etwa so wie ich mir das vorzustellen versuche, was Gläubige beim Gedanken an Gott empfinden mögen.

Das erste Mal, dass der Gedanke an Abschied in mir aufkam, von innen heraus, ohne dass ich ihn vorsätzlich gefasst hätte, ereignete sich in der Moschee im spanischen Córdoba. Ich stand in der Mitte der Säulenhalle, wo alle Unendlichkeit der waagrechten und senkrechten Fluchtlinien unter den roten und weißen Steinblöcken der Hufeisenbögen zusammenfließen, wie um mir meine Endlichkeit deutlicher spürbar zu machen. Der Eindruck war begleitet von vorüberhuschenden Erinnerungsbildern aus vergangenen Tagen und den augenscheinlichen Zeugnissen einer Pracht, die auf Zerfall oder Zerstörung vorangegangener Pracht beruht, wie mein eigenes Leben auf dem Leben mir vorangegangener Generationen. Und ich dankte dem Geschick, das es mir ermöglicht hatte, ganz im Gegensatz zum durch Kriegs- und Notzeiten eingeschränkten Leben meiner Eltern und Großeltern, mich von frühester Jugend an frei bewegen zu können, beinahe grenzenlos über den gesamten Erdball. Auf mühsame und zugleich zauberhafte Weise war der Oberschüler, den Rucksack mit Nationalflaggen schon bereister Länder geschmückt, damals auf staubigen Straßen Mesetas durchquerend und entlang einsamer Strände nach Córdoba gelangt.

Seltsam, kommt mir meine erste Begegnung mit Spanien in den Sinn, ist mir, als vernähme ich eine Stimme, vertraut und zugleich nie gehört: "Hier sind die Pyrenäen", höre ich Antoine de Saint Exupéry. "Die letzte glückliche Stadt liegt hinter mir. Hier ist Spanien und Figueras. Hier bringt man sich um. Wie andere Städte nährt auch sie sich von den Früchten der Ebene, die auf den weißen Straßen zu ihr gelangen." Spaniens Straßen waren immer noch weiß, auch neunzehn Jahre nachdem Saint Exupéry die Pyrenäen überflogen hatte. Neunzehn Jahre auch, seit der Bürgerkrieg zu Ende gegangenen war. Und die Menschen in den Städten, in denen sich die weißen Straßen kreuzten? Sie jubelten beim Stierkampf und schwiegen über den Krieg. Dieses Schweigen kannte ich nur zu gut aus meiner Heimat. Heute, nach einem allgemeinen materiellen Aufstieg nie dagewesenen Ausmaßes, aber auch mit all den erschreckenden Rückfällen in Krieg und Vernichtung, mag dies wie ein Märchen erscheinen. So gut wie alle Gebiete meiner frühen Erkundungen im Vorderen und Mittleren Orient wie in Afrika in und um die Sahara haben sich in Zonen der Vernichtung und der Unmenschlichkeit verwandelt. Selbst vor meiner europäischen Nachbarschaft hat der Krieg nicht Halt gemacht.

Nicht jeder Abschied ist ein selbstgewählter, viele Abschiede werden uns aufgezwungen. Mir bleibt nur, sie hinzunehmen, wie den Fall der Kuroi von Manhattan, der Zwillingstürme mit den von mir gegebenen Spitznamen Biton und Kleobis. Es dauerte noch Tage, nachdem wir in dem entlegenen Gebirgstal des Hindukusch der Mutter ihren vor dem Ertrinken geretteten Säugling in die Arme gedrückt hatten, bevor ich erfuhr, was in New York in jener für mich so frostigen Nacht geschehen war. Ich hatte den Kunjerap-Pass nach China überquert und saß im Bazar von Kashgar mit einem pakistanischen Teppichhändler beim Tee. Er hatte erfahren, dass sie Türme in New York eingestürzt waren, nachdem zwei Flugzeuge gezielt in sie eingeschlagen hatten, mit einer Präzision, wie sie nur die Amerikaner selbst zustande brächten, davon war er überzeugt. Niemand anderer hätte den Anschlag so erfolgreich ausführen können. Ich widersprach nicht, ließ dem Mann seine Überzeugung, dachte an die Stunde, in der ich mit Hannah auf dem von allen in den Türmen arbeitenden Menschen längst verlassenen Platz auf dem noch tagwarmen Pflaster lag, und wir mit vereintem Blick den in den Abendhimmel wegfluchtenden Linien nachschauten, die sich im Unendlichen trafen. Von dort kam die Liebe, die uns seit dem Morgen durch die Stadt wirbelte, Hand in Hand, ein taglanges Collier aus Umarmungen und Küssen knüpfend. Heute knüpfe ich an einem Collier der Abschiede, von Córdoba bis auf den Gipfel des Parnass bei Delphi, und ich werde wohl noch eine Weile daran weiterknüpfen, bevor es soweit ist, die Schließe einzufügen.

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