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Radiokolleg

"Natur ist tot"

Zwei Sendungen im Rahmen des Ö1 Jahresschwerpunkts über das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen.

Paul J. Crutzen, 2009

PICTUREDESK.COM/DPA/KARL-JOSEF HILDENBRAND

Paul J. Crutzen

Der August 2024 könnte ein neues Zeitalter einläuten: das Anthropozän. Wenn in der südkoreanischen Stadt Busan der 37. Internationale Geologenkongress stattfinden wird, könnte tatsächlich das Ende des Holozäns beschlossen werden. Das laut Experten seit 12.000 Jahren vorherrschende erdgeschichtliche Zeitalter würde dann offiziell vom Erdzeitalter des Menschen abgelöst werden.

Der Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen gilt als einer der Väter des Anthropozäns. Bereits vor mehr als 20 Jahren hatte der niederländische Wissenschaftler das Holozän bei einer Tagung für beendet erklärt. Die 2009 ins Leben gerufene Anthropocene Working Group kam schließlich zu dem Ergebnis, dass die Menschheit in nur zwei Generationen zur stärksten geologischen Kraft geworden ist. Die Weltwirtschaft wuchs im vergangenen Jahrhundert um das 14-fache, der Energieumsatz stieg um das 16-fache, der Co₂-Ausstoß nahm um das 17-fache zu. Mehr als 70 Ökosysteme sind geschädigt oder übergenutzt. Das Artensterben, die Schadstoffe in Erde und Luft und der Treibhauseffekt sind heute unleugbare Folgen der menschlichen Ausbeutung des Planeten.

Wann hat es begonnen?

Die Ausrufung des erdgeschichtlichen Zeitalters des Menschen erscheint da nur folgerichtig. Diskutiert wird zurzeit vor allem noch über die Frage, wann das Anthropozän begonnen haben soll. Begann es um 1800 mit dem Einsetzen der Industrialisierung, mit der Erschließung großflächiger Erdölfelder im 20. Jahrhundert oder mit dem Wirtschaftsaufschwung nach 1945? Der Meteorologe Paul Crutzen schlug in diesem Zusammenhang das Jahr 1950 als Beginn der sogenannten Great Acceleration, der großen wirtschaftlichen Beschleunigung, vor.

Doch es wäre nicht der Mensch, wenn Begriff und voraussichtlicher Beginn des Anthropozäns nicht auch viele Kritiker:innen auf den Plan gerufen hätten. Der Umwelthistoriker Jason Moore kritisiert den Terminus Anthropozän und plädiert für den Begriff des Kapitalozäns, das 1492 mit der Eroberung Amerikas, der (bewussten) Einschleppung von Viren aus Europa und der Versklavung von Millionen von Menschen begonnen habe. Auch die Autorin und Soziologin Eileen Crist bemängelt das Konzept des Anthropozäns, da es die Rolle des von der Natur entfremdeten Menschen betone und gerade keine Alternative zur ungehemmten anthropogenen Umgestaltung der Erde anbieten würde. Das Zeitalter des Anthropozäns würde den Menschen endgültig zum Alleinherrscher über die Natur ausrufen. Diesmal mit dem Anspruch der Reparatur.

Mensch als Schöpfer der Natur

Der Mensch als Schöpfer der Natur ist auch in der synthetischen Biologie längst Realität: So wurden in den USA etwa mittels eines Bakteriums Gene aus Kürbissen und Grünalgen in die Gene von Pappeln eingefügt. Die sogenannten Turbobäume wachsen dadurch viel schneller als herkömmliche Bäume und können wesentlich mehr CO2 aufnehmen als ihre "natürlichen" Artgenossen. Produkte, die bisher vielleicht nur in Science-Fiction-Romanen vorgekommen sind, werden von manchen Expertinnen und Experten gar als Vorboten einer Schlüsselindustrie der Zukunft identifiziert: So werden mit synthetischer Biologie bereits Burger, Hühnerfleisch oder Meeresfrüchte aus Bakterien im Labor gezüchtet. Und verkauft.

Die Welt der Zukunft, so scheint es, wird eher künstlich als natürlich sein, und schon möchte man Friedrich Nietzsches legendären Ausspruch aus dem 19. Jahrhundert, "Gott ist tot", mit dem Ausblick auf das 22. Jahrhundert ergänzen: "Natur ist tot."

Gestaltung

  • Johannes Gelich