ORF/JOSEPH SCHIMMER
"Diagonal" ist 40
Die Klugmaschine
"Diagonal" feiert 40. Geburtstag - und bleibt lebendig wie seit vielen Jahrzehnten. Ein Gastbeitrag von Christoph Winder
22. Juni 2024, 12:00
Videomitschnitt aus dem ORF RadioKulturhaus
Noch nie war "Diagonal" so wertvoll wie heute. In einer zerklüfteten, von Qualitätsverlust angekränkelten Medienlandschaft spielt das Ö1 Radiofeuilleton quasi die Rolle des kleinen gallischen Dorfs. Es leistet Widerstand gegen eine Aufmerksamkeitsökonomie, der nichts zu kurz, zu schnell, zu vereinfacht und zugespitzt sein kann. Aus dem kleinteiligen Digitalumfeld der Podcasts, Tweets und Postings ragt "Diagonal" als lineares Format hervor, das sich den Luxus des langen Atems ebenso leisten kann wie eine imposante inhaltliche Breite.
Februar 1934, 100 Jahre BBC, Goethe für die Gegenwart, Michel Houellebecq, Anna Jermolaewa, Hochstapelei, Alkohol, die Falte, der Fleck - ein kleiner Ausschnitt aus der Liste der Themen, die die "Diagonal"-Macherinnen und -Macher in letzter Zeit multiperspektivisch eingekreist haben.
"… eines der außergewöhnlichsten Radioformate", Konrad Paul Liessmann
Dafür wird "Diagonal" konstant mit Aufmerksamkeit und qualifizierter Wertschätzung belohnt. So viele Hörer:innen wie heute hatte es noch nie. Zuletzt gab es für "Der Buchstabe X" den Radiopreis der Erwachsenenbildung und für das Stadtporträt Silicon Valley den Dr. Karl Renner Publizistikpreis.
"Ich halte das für eines der außergewöhnlichsten Radioformate, die mir untergekommen sind", findet der Philosoph Konrad Paul Liessmann. "Wo gibt es schon Sendungen, die nahezu zwei Stunden dauern? Die Art und Weise, wie hier Wort- und Musikbeiträge gemischt werden, ist großartig. Und dann die akustischen Stadtporträts: Das war für mich eine echte Innovation, eine sensationelle Eröffnung von Hörmöglichkeiten auf Metropolen - und immer eine ungeheure Bereicherung."
ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
An die 2.000 Sendungen
Am 19. Mai 1984 ist die erste Ausgabe von "Diagonal" in Ö1 auf Sendung gegangen. Diese Sendung wiederholt Ö1 am Sonntag, 26. Mai 2024 um 22:05 Uhr.
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Im Mai 2024 können die Radiomacherinnen und -macher eine Bilanz vorweisen, die sich hören lassen kann: Ungefähr 2.000 Sendungen haben sie produziert, Personen- und Themensendungen, Magazine und Stadtporträts, in denen über Memphis oder Manaus ebenso gründlich berichtet wurde wie über Gastein oder Entenhausen.
Als schreibender Zeitgenosse ist der Autor dieser Zeilen ungefähr gleich alt wie die Ö1 Sendereihe "Diagonal". Seit den 1980er Jahren betätige ich mich als Printjournalist, habe aber das Vergnügen, gelegentlich bei "Diagonal" mitzuarbeiten. Daher kenne ich den Spirit jener, die für die Sendung verantwortlich sind: ihr Engagement, ihre Kreativität, ihren Ernst und nicht zuletzt ihren Schmäh. "Diagonal" beweist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu herausragenden journalistischen Leistungen fähig ist, wenn man ihn nur ausreichend würdigt und alimentiert.
Links und rechts rattern die "Blödmaschinen"
Links und rechts rattern die "Blödmaschinen", wie das die Autoren Markus Metz und Georg Seeßlen genannt haben: Medien, Politiker und Politikerinnen sowie andere Akteurinnen und Akteure, die wollen, dass wir es uns in der Dummheit gemütlich einrichten. "Diagonal" hingegen ist eine Klugmaschine geblieben, die mit Neugier gesegneten Hörerinnen und Hörern rechnet - und auf Augenhöhe mit ihnen verkehrt. Ein Grund mehr, weiter mit Witz und Fantasie gegen alle anzukämpfen, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Österreich den Garaus machen wollen.
Am 25. Mai feierte die Redaktion mit einer Livesendung aus dem Großen Sendesaal des ehemaligen Wiener Funkhauses ihren runden Geburtstag. Nicht mit einer historischen Selbstbeschau. Das Team wollte mit größtenteils jungen Gästen aus verschiedenen Öffentlichkeiten sehr gegenwartsbezogen und vor Publikum debattieren. Man gab sich dazu das Motto "Zukunft Now!".
"Zukunft Now!" im RadioKulturhaus
Die Themen der Performances, der Livemusik und der Gesprächsgipfel waren so naheliegend und divers wie die Geladenen selbst: KI, Nachhaltigkeit und Ernährung, neue künstlerische Positionen, Applied Human Rights und disruptive Prozesse allerorts. Nur einen Ausreißer gabe es in der Runde, doch ob dessen spritziger Innovationslust auch wieder nicht: den 81-jährigen Autor und Senner Bodo Hell, ein "Diagonal"-Urgestein, wenn man so will. Er traf in der Livesendung am 25. Mai auf die Autorin, Journalistin und Slawistin Nada Chekh - "Alpin"-Senner trifft auf palästinensisch-ägyptische Biografie sozusagen.