Zeitungen, Der Standard, Lena-Schilling-Schlagzeile

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Der Fall Schilling und die Folgen

Ein anonymisierter Medien-Hype

Selten war Österreichs Medienbranche so uneins wie in der Frage: Sind die Vorwürfe, die der "Standard" über die grüne EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling veröffentlicht hat, politisch relevant? Oder hat das links-liberale Qualitätsblatt ohne Not eine Grenzüberschreitung getätigt - und warum? #doublecheck über eine anonymisierte Berichterstattung, die einen Medien-Hype ausgelöst und die Berichterstattung über den EU-Wahlkampf dominiert hat.

Am Dienstag vor der EU-Wahl erschien eine Abordnung der "Standard"-Redaktion am Wiener Franz-Josefs-Kai, wo der Presserat residiert. Es ging um die Schilling-Berichterstattung, das Ergebnis der Beratungen wird wohl erst nach der Wahl veröffentlicht. Fabian Schmid, der mit Katharina Mittelstaedt die Recherchen in der umstrittenen Causa gemacht hat, sagt, man nehme den Presserat sehr ernst. "Weil wir glauben, dass es natürlich auch ein wichtiges Thema ist und gut, darüber zu sprechen." Man habe eine lange schriftliche Stellungnahme abgegeben und sich bei der Sitzung allen Fragen gestellt und "versucht, es so offen wie möglich zu beantworten", so Schmid.

Es geht um zwei zentrale Fragenbereiche, wie der Generalsekretär des Presserats, Alexander Warzilek, im Vorfeld erklärt hat. Nämlich: ob die Berichterstattung im "Standard" vom öffentlichen Interesse getragen ist, "ob da nicht zu sehr ins Private eingedrungen wurde. Und ein zweiter wichtiger Punkt, den es zu klären gilt, ist die Frage, ob die anonymisierten Zitierungen gerechtfertig sind."

"Das ist doch eine saubere Recherche"

Für Fabian Schmid ist das öffentliche Interesse eindeutig gegeben, es gehe schließlich um eine wichtige politische Funktion in einer zentralen Institution, das ist das Standard-Argument. Dem pflichtet Matthew Karnitschnig vom Magazin "Politico" bei: "Das ist für mich eine sehr saubere Recherche, das hätte auch „Der Spiegel“ so gehandhabt, wenn es um einen deutschen Politiker gegangen wäre. Oder ein amerikanisches Blatt." Ihn überrasche diese Aufregung, so Karnitschnig. Er könne das "überhaupt nicht nachvollziehen. Wir wollen ja mehr Transparenz."

Vergleiche mit der Praxis in anderen Ländern würden uns aber nicht weiterbringen, meint dazu Petra Herczeg, sie ist Kommunikationswissenschafterin an der Universität Wien. "Für mich persönlich ist es eine Grenzüberschreitung, weil ich einfach finde, dass das im privaten Rahmen stattgefunden hat. Das widerspricht auch meinem Begriff der Öffentlichkeit." Und es stelle sich angesichts der Vorgaben des Presserats, nur dann anonymisiert zu zitieren, wenn die Sicherheit der Quelle gefährdet sei, die Frage: "Warum wird hier anonymisiert? Wessen Interessen sind hier tatsächlich betroffen?"

Lena-Schilling-Schlagzeile im Standard

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"Standard" sieht Präzedenzfall des Presserats

Was die vielen anonymisierten Zitierungen in der Schilling-Berichterstattung betrifft, verweist Fabian Schmid auf eine frühere Entscheidung des Presserats in Bezug auf die KPÖ - "wo auch festgehalten wurde, dass jemand, der über seine eigene Partei Interna an Medien weitergibt, dass der anonymisiert werden darf, weil es eben berufliche Konsequenzen haben könnte."

Um diese Fragen dreht sich nicht nur die Prüfung des Presserats, der selten so im Fokus gestanden ist, sondern die ganze Medien-Diskussion, die die Causa Schilling auch ausgelöst hat. Was ist öffentliches Interesse, wer definiert das? Florian Gasser, Österreich-Chef der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" sagt: "Wie sehr hängen politische und private Moral zusammen? Ja, die hängen zusammen. Aber ich finde, da muss man schon ganz, ganz vorsichtig sein und auseinanderdividieren. Was von dieser privaten Moral hat mit der politischen Moral zu tun?"

Lena Schilling

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Lena Schilling als vogelfreie Projektionsfläche

Und an dieser Vorsicht habe es nach seinem Gefühl gemangelt, so Gasser: "Vieles war natürlich anonym, was bei so einer Berichterstattung fast meistens sein muss. Aber es blieb alles so im Ungefähren. Und das ging mir dann fast zu weit. Man hatte dann auch so das Gefühl, dass Lena Schilling zu einer Person geworden ist, eine Projektionsfläche, die fast vogelfrei ist." In der Gratiszeitung "Heute" heißt sie "Lügen-Lena", im Netz ist "notorische Lügnerin" noch die gelindeste Zuschreibung.

Die Medienethikerin Petra Herczeg von der Universität Wien vermisst in der Debatte den Aspekt der Achtung. "Die Achtung des anderen ist vielleicht ein abstrakter Begriff, aber es geht um die Würde des Menschen. Und inwiefern hier auch die Würde von der Lena Schilling in Frage gestellt wird, ist auch etwas, was zu diskutieren ist - auch auf einer grundsätzlichen Ebene: Wie kommunizieren wir miteinander?"

Die meistgeklickte "Falter"-Story des Jahres

Barbara Toth vom "Falter" sagt, die Schilling-Story in ihrem Heft sei die meistgelesene in diesem Jahr gewesen - gleichauf mit dem Artikel über Alexandra Föderl-Schmid. Die Journalistin von der "Süddeutschen Zeitung" ist von einem deutschen Online-Portal in eine existenzielle Krise gehetzt worden. Die Vorwürfe wurden durch die Uni Salzburg und eine von der SZ eingesetzte Expertenkommission mittlerweile restlos widerlegt. Man könne die Fälle nicht vergleichen, sagt Toth.

Aber es gebe Parallelen. "Es geht um Frauen, es geht um Persönliches. Es ist wahnsinnig viel Emotion drinnen. Und wir haben hier in der Redaktion auch schon gesagt, es ist ein bisschen so das Genre der modernen Hexenjagd." Das sei ein schwieriger Begriff, sagt Toth, aber das seien schon archaische Muster. "Und ich glaube, das ist auch der Grund, warum es so wahnsinnig viel Interesse gibt, warum es total klickt."

Titelblatt des "Falters": Der Fall Lena Schilling

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Die Rolle der grünen Krisenkommunikation

Hätte die Grüne Parteispitze nicht so falsch auf die Berichterstattung reagiert, dann wäre die Sache nie so groß geworden, hält Fabian Schmid vom "Standard" dem entgegen. "Es steht außer Frage, dass es einen unverhältnismäßig großen Platz in diesem Wahlkampf eingenommen hat. Allerdings glaube ich, dass ein großer Teil davon einfach der Reaktion der Grünen zuzuschreiben ist." Durch die Pressekonferenz der Parteispitze am Morgen nach der Veröffentlichung seien praktisch alle Medien gezwungen gewesen, das zu bringen.

Da widerspricht niemand, das Urteil von Profis über die grüne Krisen-Kommunikation ist einhellig vernichtend ausgefallen. Auch Florian Gasser von der "Zeit" unterstreicht das. Gasser hinterfragt aber auch die Rolle der Journalisten. "Es gibt die Vorderbühne - das ist das, was man nachlesen kann, was publiziert worden ist, was in Fernsehsendungen gesagt worden ist. Und dann gibt es natürlich in dieser Geschichte eine Hinterbühne." Die meisten Journalistinnen und Journalisten wüssten ja viel mehr Dinge, als sie sagen können - Dinge, die noch weiter ins Privatleben eindringen.

Der Krieg der Gastkommentatoren

Und die Medien würden in der Causa Schilling teilweise schon selbstreferenziell agieren, ein Krieg der Gastkommentatoren sei ausgebrochen. In Talk-Sendungen sei die Hinterbühne offen zutage getreten, so Gasser: "Wenn jetzt in so Runden Journalisten und Journalistinnen, Expertinnen und Experten zusammensitzen und über das Thema diskutieren. Wo ich mich oft frage: Wer versteht denn eigentlich noch, worüber die da sprechen?" Bei einer dieser Runden auf Servus TV durfte übrigens auch ein Vertreter des Online-Mediums "Nius" von Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt über Ethik schwadronieren - das ist jene Website, die Jagd auf Alexandra Föderl-Schmid gemacht hat.

Barbara Toth, die zu den vom "Standard" veröffentlichten Chats wichtigen fehlenden Kontext recherchiert hat, wiederum vermisst die Geschichte hinter der Geschichte. Also wie es zu den Recherchen gekommen ist, wer den Anstoß dazu gegeben hat. Es wird ja einem gut vernetzten Ehepaar eine zentrale Rolle in der Causa zugeschrieben. Es gebe keine spezielle Geschichte dahinter, sagt Fabian Schmid. Man habe Informationen bekommen, denen sei man nachgegangen und im Zuge dessen auch auf die Bohrn Menas gestoßen. Das Ehepaar sei nicht von sich aus an den "Standard" herangetreten, versichert Schmid.

Die Geschichte hinter der Geschichte fehlt

Doch auch für Cathrin Kahlweit von der "Süddeutschen Zeitung" fehlt einfach Kontext. Der "Standard" hätte den Hintergrund besser erklären müssen, sagt sie: "Also die Geschichte, die anonymisierten Stimmen, auf die sie sich ja zum allergrößten Teil verlassen haben. Da haben sie nie klar gemacht, aus was für einer Ecke die kommen und dass da junge Leute mit jungen Leuten über den richtigen Kurs streiten. Und ich finde, man hätte diesen Kontext besser erklären müssen, um diese Geschichte besser einordnen zu können."

Was wird bleiben? Werden Charakter-Prüfungen jetzt fixer Bestandteil der politischen Auseinandersetzung? Florian Gasser: "Bei Sebastian Kurz ging es ja auch ganz viel um Charakterfragen. Ist er geeignet? Oder war er geeignet für die Funktion des Bundeskanzlers? Es wäre gelogen zu sagen, wir haben noch nie so was diskutiert. Und das finde ich auch richtig, dass wir darüber diskutieren." Die Frage, die man sich in Österreich schon stellen müsse: "Wie genau sind wir beim Unterscheiden zwischen Privatem und Politischem?"

Was sagen Chats darüber aus, wie jemand ist?

Petra Herczeg dazu aus medienethischer Sicht: "Das eine ist, was ich in einem privaten, geschützten Raum äußere, und das andere, wie ich in der Öffentlichkeit auftrete. Für mich stellt sich die Frage, inwiefern all diese Nachrichten, die veröffentlicht worden sind, welche Relevanz die dafür haben, wie jemand ist." Herczeg sieht jetzt die Chance, eine Diskussion über die personalisierte Politik anzustoßen.

Fabian Schmid sieht den Fall Schilling hingegen als eine singuläre Begebenheit: "Ich denke, es war eine einzigartige Situation, eine einzigartige Kandidatin und einzigartige Vorkommnisse. Und deswegen ist auch so eine Geschichte herausgekommen. Ich glaube nicht, dass man jetzt da vom Beginn einer Ära in irgendeiner Form sprechen kann." Florian Gasser widerspricht: Es werde in Zukunft viel öfter Chats und ähnliches geben, die jemanden in ein schlechtes Licht rücken wollen. "Und da werden wir künftig noch viel, viel stärker drauf schauen müssen. Und ich finde, das war jetzt ein Fall, der gezeigt hat, wie man es vielleicht besser nicht hätte machen sollen", so Gasser.

"Nicht unbedingt das Best Practice Model"

Das Fazit von Cathrin Kahlweit hat schon fast etwas Versöhnliches: "Ich glaube, dass nach dieser Debatte, auch wenn der 'Standard' sicherlich viele Klicks und viel Aufmerksamkeit bekommen hat, das nicht unbedingt als Best Practice Model in die journalistische Geschichte eingehen wird, sondern dass möglicherweise in der Zukunft alle wieder etwas vorsichtiger sein werden, weil sie eine solche Schlammschlacht nicht noch einmal haben mögen."

Die Schlammschlacht vor der EU-Wahl 2024 als Mahnung an die Branche.