Einwurf des Wahlzettels in die Wahlurne

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Zwischen Solidarisierung und Totalabsturz

Der Charakter der Wählerzustimmung

Was macht die Charakter-Debatte über Lena Schilling eigentlich mit dem Wahlkampf der Grünen? Ist der durch die Berichterstattung zerstört worden, wie einer der Vorwürfe auf den Meinungsseiten lautet? Oder wird es vielleicht einen Solidarisierungseffekt geben - darauf hofft wohl die grüne Parteispitze. #doublecheck hat darüber mit Meinungsforscher Peter Hajek gesprochen, der gemeinsam mit zwei Kollegen auch die Grundlage für die Berichterstattung über EU-Wahl am Sonntag liefert. Die sogenannte Trendprognose.

Einen Solidarisierungseffekt, den könnte man schon messen, sagt Peter Hajek. Aber der Aufwand wäre viel zu groß. "Das wäre ein sogenanntes Rolling Polling. Sie machen am Montag 500 Interviews, dann machen Sie am Dienstag 500 Interviews, legen diese zusammen auf eine Stichprobe, machen Mittwoch 500 Interviews. Dafür geben sie die Interviews vom Montag wieder hinaus. Und so könnten sie das verfolgen." Weil das aber niemand mache, sei unklar, welchen Effekt der Fall Schilling auf die Wählerzustimmung habe. Eines könne man mit Blick auf die aktuellen Umfragen sagen, so Hajek: "Die Grünen befinden sich nicht im freien Fall. Aber Rückenwind haben sie auch keinen."

Schwankungen von Grün zu NEOS und zurück

Bei der Zustimmung zu einer Partei seien jedenfalls auch kurzfristige Schwankungen möglich, durch einen bestimmten Wählertypus. "Es gibt sogenannte Waverer. Das sind Menschen, die zwischen zwei Parteien schwanken. Und da ist es durchaus möglich - nehmen wir zum Beispiel Grüne und NEOS, dass diese Wähler von Grün zunächst zu NEOS hinüber geschwankt sind, dann vielleicht wieder ein Teil in der letzten Woche wieder zurück", so Peter Hajek. Das sei alles möglich. Wissen könnten wir es aber erst am Wahltag.

Lena Schilling hat das Ihrige dazu beigetragen, um zu retten, was zu retten ist. In den TV-Duellen im ORF und auf Puls blieb die Spitzenkandidatin der Grünen sich und den anderen nichts schuldig. Sie blieb bei den Vorwürfen gegen sich selbstbewusst: "Dass man über meinen Charakter spricht oder die Arbeit, die ich gemacht habe, den Menschen, der ich bin -das ist völlig legitim. Ich glaube, die Art und Weise, wie das passiert ist und wie die Gespräche geführt werden, das finde ich nicht legitim."

Das "Gossip Girl" zeigte Standfestigkeit

Und inhaltlich war Schilling angriffig, wenn sie etwa der ÖVP "als eine Partei, die länger in der Regierung ist, als ich auf der Welt bin", eine Kernverantwortung für die Klimakrise umhängte. ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka fehlten im Duell auf ORF III kurz die Worte. Die Konfrontationen der Kandidaten im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen haben viel Sachpolitik, aber auch emotionelle Szenen - vor allem bei den Themen Russland und Klimaschutz - geboten. Es war ein deutlicher Kontrast zur Aufregung im Netz über das "Gossip Girl", wie Schilling von manchen Medien genannt wurde. Die Bedeutung der TV-Duelle für die Wahlentscheidung sollte man nicht überbewerten.

Bemerkenswert war eine Taferl-Runde bei der "Puls"-Konfrontation eine Woche vor der Wahl. Die USA, Frankreich und Deutschland haben der Ukraine erlaubt, mit gelieferten Waffen auf Ziele in Russland zu schießen. Moderatorin Manuela Raidl wollte wissen: "War das die richtige Entscheidung? Ja oder nein?" Worauf SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder einwarf, dass Österreich mit seiner neutralitätsrechtlichen Grundlage das nicht zu beurteilen habe. Das Ergebnis der Taferl-Abstimmung: Helmut Brandstätter von den NEOS sagte ja, Harald Vilimsky von der FPÖ nein, und die anderen drei - also SPÖ, ÖVP und Grüne - waren sogar zu neutral, um einfach eine Meinung zu haben.

Trendprognose am Sonntag mit offenen Fragen

Am Sonntag ist der Wahlkampf vorbei, aber das Ergebnis wird erst eine Stunde vor Mitternacht bekannt sein, denn in Italien ist erst um 23 Uhr Wahlschluss. In Österreich schließen die Wahllokale schon um 17 Uhr - und da gibt es dann eine sogenannte Trendprognose, die von Peter Hajek, Christoph Hofinger vom Foresight-Institut und Franz Sommer von der ARGE Wahlen gemacht wird. Und zwar im Auftrag von ORF, dem Fernsehsender Puls24 und der Austria Presse Agentur. Die Prognose beruht auf drei Umfragen, die die Institute in den Tagen vor der Wahl jeweils unter 1200 Personen durchführen. Insgesamt also ein Sample von 3600 mit einer maximalen Schwankungsbreite von 2,5 Prozent.

Anders als bei Hochrechnungen wird in der Trendprognose kein einziges Sprengelergebnis enthalten sein, es ist also eine Schätzung, die aber sehr genau sein kann. Bei der EU-Wahl 2019 galt das gleiche Procedere und die Prognose stimmte fast punktgenau mit dem Wahlergebnis überein. Bis der Vergleich dann ab 23 Uhr möglich ist, werden aber entscheidende Fragen offenbleiben. Peter Hajek: "Wer wird Zweiter werden? Sozialdemokraten oder ÖVP? Wer macht Platz vier? Das heißt, wir können aktuell nicht sagen, sind es NEOS oder sind es die Grünen? Und es wird sich möglicherweise auch die Frage stellen, Schafft die KPÖ den Einzug ins Europaparlament mit der Hürde von vier Prozent?"

FPÖ mit sehr gefestigter Klientel auf Siegerkurs

Außer Streit sollte stehen, dass die Freiheitliche Partei erstmals Nummer eins bei einer Bundeswahl wird, so Hajek - in welcher Größenordnung auch immer. Es seien zwar auch schon "Hausherren gestorben", aber: "Es ist das heutiger Sicht eher unwahrscheinlich, weil die FPÖ ein sehr, sehr gefestigtes Wählerpotenzial hat. Wir wissen aus den vorhergehenden Befragungen, dass zum Beispiel 82 Prozent jener Wählerinnen und Wähler, die sich für die Freiheitliche Partei deklarieren, auch ganz sicher ihre Stimme abgeben wollen." Deklarierte SPÖ- oder ÖVP-Wähler wollten nur zu rund 60 Prozent fix wählen gehen, bei Grün- und NEOS-Wählern sei sich nur jeder und jede Zweite - 50 Prozent - sicher, die Stimme abzugeben.