Radios hängen von der Decke

ORF/ISABELLE ORSINI UND ROSENBERG

Das unverwüstlichste Medium

Das Radio in Österreich feiert im Oktober seine ersten hundert Jahre. Der ORF begeht das stolze Jubiläum mit Spezialsendungen, das Technische Museum in Wien macht eine große Ausstellung zu diesem unverwüstlichsten aller Medien. Denn Radio ist und bleibt, wie die Kennzahlen zeigen, eine Erfolgsstory. Und es ist resilient, die Krisenpläne bauen weiterhin auf die UKW-Sender. Zugleich sorgen neue Digitalkanäle der Privaten für einen Boom.

Obwohl es jede Menge Streaming-Angebote und Podcasts gibt, schalten jeden Tag drei Viertel der Österreicherinnen und Österreicher das Radio ein. Unglaubliche 4,5 Millionen hören täglich die drei nationalen und neun regionalen ORF-Radiosender, mehr als die Hälfte davon hören allein Ö3. Für Senderchef Michael Pauser bedeutet das auch eine Verantwortung, wie er sagt: "Wir haben täglich 2,5 Millionen Hörerinnen und Hörer und sind zweieinhalb Mal so groß wie die Nummer zwei in Österreich, das ist 'Kronehit'. Und das macht uns auf der einen Seite stolz, auf der anderen ist das natürlich auch eine wahnsinnige Verpflichtung." Pauser sieht Ö3 in der Pflicht, den Menschen zuzuhören und sie in dieser Zeit der Spaltung zusammenzuführen.

Die Marke Ö3 und ihre vielen Marken

Sendungen wie der Ö3 Wecker und "Frühstück bei mir" mit Claudia Stöckl, das sind Marken in der Marke Ö3, die den Sender stark machen und halten. Oder auch das Format "Frag das ganze Land". Aus der Sendung am Samstagnachmittag ist ein Night Talk erwachsen und ein Programm, mit dem der Sender auf Tour geht - etwa zu Festivals. Pauser: "Mit 'Frag das ganze Land' sind wir auch an Schulen gegangen in ganz Österreich und haben das mit siebten, achten Klassen nachgestellt und dort Fragen aus ihrem Leben durchdiskutiert. Immer 20 Minuten pro Frage, das hat wunderbar funktioniert. Wir glauben, dass wir dadurch eine Diskussion anregen können, aber uns auch beim Publikum vorstellen."

Die Kids im Auto hören nicht mehr mit

Denn die Jungen hören nicht mehr selbstverständlich Radio, deshalb macht Ö3 so viele Außensendungen und Veranstaltungen wie noch nie. Es gibt erstmals auch ein eigenes Social Media Team mit Blick auf die Jungen. Michael Pauser: "Du hast heute die Möglichkeit als junger Mensch, im Auto mit den Eltern zu sitzen und nicht mitzukriegen, dass Ö3 für deine Eltern zum Leben dazugehört. Die Kids haben alle zwei Ear-ins drinnen und hören auf ihrem eigenen Handy in ihrer eigenen Unterhaltungsbubble." Und um diese Generation müsse man sich bemühen, auch wenn Ö3 in allen Altersgruppen gut vertreten sei.

Für Pausers langjährigen Vorgänger als Ö3-Chef, Georg Spatt, hat Radio generell gute Kennzahlen. Die Jungen hätten immer schon weniger Radio gehört. "Aber selbst bei den Jungen haben wir Daten, da würden sich die meisten anderen Mediengattungen die Finger schlecken. Reichweiten, Marktanteile, Durchhörbarkeit, Hördauer, Zielgruppen-Genauigkeit des Mediums Radio sind fantastisch. Radio funktioniert auch als Werbemedium hervorragend." Spatt ist seit dem Vorjahr für das Programm des Privatsenders "Kronehit" verantwortlich, und er hat - wie er sagt - einen Kulturschock durchlebt.

Ein Ex-ORF-Mann und vier neue Radiosender

Die Möglichkeiten seien ganz anders aufgestellt, sagt Spatt: "Alles, was man macht, muss argumentierbar sein - über den Erfolg schlussendlich. Ich genieße es sehr, das eine oder andere Mal viel, viel schneller Entscheidungen treffen zu können und denk mir manchmal auch - hui, jetzt hätte ich ganz gern ein bisschen mehr Zeit für Entscheidungen." Georg Spatts Hauptaufgabe ist: Ende Juni hat "Kronehit" gleich vier neue Radio-Sender gestartet, und er darf die neue Senderflotte managen.

Möglich gemacht hat das eine Novelle zum Privatradio-Gesetz, die die Vergabe von DAB+ Lizenzen liberalisiert hat. Das sind digitale Kanäle, fünfzehn passen auf eine UKW-Frequenz. Das macht den einzelnen Kanal billiger. Die Österreichische Rundfunksender GmbH, kurz ORS, an der der ORF beteiligt ist, betreibt die Sendeanlagen. Geschäftsführer Michael Wagenhofer: "Den Privatradios wurde erlaubt, bis zu sechs Programme in einem Versorgungsgebiet zu veranstalten. Und das hat dann natürlich auch die großen Gruppen dazu bewogen, in diese Technologie einzusteigen." Denn wenn man nicht mehr und neue Programme machen dürfte, machte das nicht so viel Sinn wie jetzt, "wo man eine Flottenstrategie aufstellen kann".

Boost für Digitalradio DAB+ dank der EU

Dem ORF sind neue Programme auf DAB+ nicht erlaubt, die Linie des Öffentlich-Rechtlichen in der Frage bleibt zurückhaltend. Hörfunk-Direktorin Ingrid Thurnher: "Investieren wir viel Geld in einen zusätzlichen Verbreitungsweg, wenn wir einen Verbreitungsweg haben, der nahezu 100 Prozent aller Menschen erreicht? Da muss man irgendwann einmal abwägen: Wann kommt der Punkt, an dem so viele Geräte in österreichischen Haushalten und in österreichischen Autos vorhanden sind, dass sich das für den ORF auch lohnt." Autos ist das Stichwort: Eine EU-Richtlinie, die beim Einbau von Radios in Neuwagen DAB+ Fähigkeit vorschreibt, war der Gamechanger.

UKW-Sender für Krisenfälle unverzichtbar

Und auch das Küchenradio im Handel sei mittlerweile schon so ausgestattet, dass es sowohl DAB+ als auch UKW empfangen kann, weiß ORS-Chef Michael Wagenhofer. Er weist aber auf einen wichtigen Aspekt hin, warum man an den UKW-Sendeanlagen unbedingt festhalten sollte - auch wenn die Digitaltechnik Einzug gehalten hat: "Radio per se ist viel resilienter als der Mobilfunk. Also wir haben alle unsere großen Anlagen mit Notstrom-Aggregaten versehen, die 72 Stunden zumindest weiterlaufen, wenn es zu einem Blackout oder zu einer Krisensituation kommt." Und damit sei gerade in der kritischen ersten Phase einer Krisensituation eine Möglichkeit gegeben, über UKW-Sender breit an die gesamte Bevölkerung zu kommunizieren.

Erschreckend faszinierendes Start-up Feeling

58 digitale Radiosender gibt es jetzt in Österreich, das ist eine Verdoppelung der früheren Zahl. Ob sich DAB+ auf Dauer durchsetzen wird oder eine Übergangstechnologie bleibt, ist offen. Georg Spatt von "Kronehit" beschreibt es so: "DAB ist ein Start-up Feeling, auch für mich persönlich. Wir können auf den DAB+ Sendern mit relativ überschaubaren Ressourcen und Möglichkeiten - weil die Bühne auch entsprechend klein ist - sehr viel probieren."

Um die Kosten niedrig zu halten, experimentieren die Privaten auch mit Künstlicher Intelligenz. Das reicht vom Screenen der Nachrichtenlage über die Vorauswahl von Meldungen bis mitten ins Herz des Radiomachens hinein, wie Spatt erzählt. "Wir experimentieren auch, was Stimmen und das Präsentieren betrifft. Das ist für mich als Radiomacher der alten Schule atemberaubend erschreckend und atemberaubend faszinierend, wie weit wir da sind und was da geht. Wir setzen das aber nicht ein zur Zeit." Betonung auf "zur Zeit". Andere Digitalradios sind da weniger zurückhaltend, was aber - wenn man sich die Liste der Betreiber ansieht - nicht verwundern darf. Auch ein großes Möbelhaus und die Beamtengewerkschaft machen neuerdings Radio.

KI-generierte Radiostimmen versus Kreativität

Für Ö3-Chef Michael Pauser kann es prinzipiell nicht genug Radioangebote geben, das belebe den Markt und tue dem Medium insgesamt gut: "Radio zieht kreative Menschen an. Und ich bin froh, wenn kreative Menschen Jobmöglichkeiten haben, sich entwickeln können, lernen können, zeigen können, was sie alles draufhaben."

Die Möglichkeiten der KI hat Pauser da nicht auf der Rechnung, diese extreme Kosteneffizienz ist aber genau das, was für den Ö3-Chef den eigenen Zugang des ORF zu Inhalten und Angeboten ausmacht und rechtfertigt. "Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man Planungen, Sitzungen, Sendungen andenkt mit dem Konzept 'Wir müssen Umsatz machen, wir müssen Geld machen'. Oder ob man sagt, wir sehen es als unsere Aufgabe, als öffentlich-rechtlicher Rundfunk etwas zur Gesellschaft beizutragen, etwas den Menschen zurückzugeben."

Zukunftsfit mit Information und Einordnung

Die Information auf Ö3 habe deshalb - nicht nur im Wahljahr, aber da besonders - einen großen Stellenwert. Der Sender stützt sich auf das Know-how und die Expertise der Fachressorts im multimedialen Newsroom, das funktioniere sehr gut, so Michael Pauser. "Wir haben ja auch mit Inka Pieh sozusagen in Personalunion jemanden, die Ö3-Nachrichtenchefin und stellvertretende Chefredakteurin im Newsroom ist. Und gemeinsam ist da wirklich ein sehr großer Entwicklungsschritt auch gewesen. Wir haben zum Beispiel das Programm seit Dezember geöffnet. Wir haben flexible Sendungslängen." Sprich: wenn mehr los ist, bekommt die Info mehr Sendezeit.

Das war bei Ö3 in den vergangenen Jahren keine Selbstverständlichkeit. Pauser: "Wir sind Österreichs einzige Radio-Nachrichtenredaktion, die rund um die Uhr live sendet. Und wir haben auch die Breaking News Garantie. Das heißt, wir gehen viel öfter ins Programm rein und bringen noch aktuellere Informationen, als wir das noch vor einem halben Jahr gemacht haben." Den Sender zukunftsfit machen, das ist Michael Pausers Mission. Da sei seriöse Information und Einordnung angesichts der digitalen Nachrichten-Überflutung ein wichtiges Standbein. Um nicht zu sagen: auch eine Marke in der Marke Ö3.