Pädagogik und Inklusion: Das Leben der Maria Montessori
Warum haben viele Wiener Kindergärten Buchenholz-Regale, die auf die Körpergröße der Kinder abgestimmt sind? Und was haben diese Möbel mit Inklusion zu tun?
30. August 2024, 17:13
Herzlich willkommen bei Freakcasters, am Mikrofon ist heute Udo Seelhofer. In der heutigen Episode beschäftigen wir uns mit dem Vermächtnis der Reform-Pädagogin Maria Montessori. Manche behaupten, sie war die erste Ärztin Italiens. Ob da stimmt und was ihre Lehren mit Inklusion zu tun haben, darüber sprechen wir mit Karin Gnaoré von der Ossiris- Akademie, die im 19. Wiener Gemeindebezirk beheimatet ist. Gnaoré ist auf die Ausbildung von LehrerInnen spezialisiert und gibt weltweit Kurse zur Vermittlung der Montessori-Ansätze. Sie hat sich in ihrer beruflichen Laufbahn ausführlich mit den Lehrern, Methoden und der Biografie von Maria Montessori auseinandergesetzt. Maria Montessori wurde am 31. August 1870 im italienischen Chiaravalle geboren. Sie war das einzige Kind wohlhabender Eltern. Der Vater arbeitete im Finanzministerium und leitete die staatliche Tabak-Manufaktur. Nach seinem Tod erbte Maria Montessori sein Vermögen und hatte so die finanziellen Möglichkeiten, ihre Lehren zu entwickeln und zu propagieren. Auch sie bewies Geschäftssinn, aber dazu später mehr. Montessori hat übrigens auch umfangreiche Tagebücher hinterlassen, was der Forschung über sie zugutekommt. Karin Gnaoré ist eine begeisterte Verfechterin der aus Italien stammenden Reformpädagogin. Am Beginn steht daher die Frage, welchen persönlichen Bezug Karin Gnaoré zur Protagonistin der heutigen Episode hat.
Also, ich bin zufällig eigentlich draufgestoßen, mich mit Reformpädagogik zu beschäftigen, ganz, ganz früh, schon im Gymnasium. Und ich hab mich mit allem möglichen beschäftigt, was es alles gibt so am Markt, sag ich jetzt, und bin bei Montessori hängen geblieben. Aus dem ersten Grund, es ist gewaltfrei. Das ist ganz, ganz wichtig. Es ist inklusiv, alle Kinder sind gleich, alle Menschen sind gleich, es gibt keinen Unterschied, es gibt keine, die gleicher sind. Und es ist strikt wissenschaftlich, was für mich superwichtig ist. Es gibt nichts, was erfunden ist. Es ist einfach ausprobiert, es funktioniert, passt!
Aber wenn Sie das so kurz skizzieren, klingt das ja fast bissl kommunistisch. Alle sind gleich, keiner ist gleicher, alle haben dieselben Rechte, alles ist sozusagen auf egalitärem Niveau. Ist das Maria Montessori, dieses Alle-Kinder-gleich-Behandeln? Oder heißt es in Wahrheit nur, alle Kinder sollen dieselben Chancen haben?
Eigentlich heißt es, alle Kinder sollen mehr Chancen haben, als sie bis jetzt in ihrem Leben hatten oder als wir bis jetzt Kindern gegeben haben. Da ist genau diese Gleichheits-Gedanke so wichtig. Weil Maria Montessori hat überall auf der Welt gearbeitet, sehr grob gesagt. Vor ihrem Tod hat sie noch geplant, nach Ghana zu fahren und dort Montessori-Kurse abzuhalten. Also für sie war egal, wo sie ist, wie die Leute ausschauen, ob das Kinder auf der Psychiatrie waren oder Kinder aus sozial schwachen Familien. Ihr ging es darum, den Kindern mehr Chancen zu geben. Und das gleich heißt gleichzeitig bei ihr: individuell. Also nicht alle haben blaue Hemden an oder alle haben den gleichen Lehrplan und friss oder stirb, sondern ich gebe dem Kind die Zeit, die es braucht, das Material, das es braucht, und das Kind darf auch seinen Interessen folgen.
Bevor wir sozusagen inhaltlich zu tief eintauchen, wollten wir jetzt noch für alle jene, die Montessori gar nicht kennen, die Eckpfeiler des pädagogischen Systems von Ihnen in einer kurzen Antwort erläutert haben, dass man was drunter vorstellen kann, wenn man sonst mit Bildungssystemen und Pädagogik-Konzepten wenig beruflich zu tun hat.
Also ein wichtiger Eckpfeiler ist: Verlange nichts, was du nicht vorher unterrichtet hast. Maria Montessori unterrichtet alles: Grüßen, bitte, danke, aufstehen, hinsetze, einen Tisch abwischen. Der zweite wichtige Eckpfeiler ist: Achte darauf, in welcher sensiblen Phase nennt sie das, heute ein wissenschaftlicher Begriff, der allgemein üblich ist, sich ein Kind befindet, und tue alles, was nur geht, damit das Kind die Dinge, die es in dieser bestimmten Phase lernen soll, in dieser Phase lernt. Man könnte hier Sprachentwicklung als Beispiel nennen: Wenn ein Kind nicht sprechen lernt in der sensiblen Phase für die Sprachentwicklung, wird es das nie wieder lernen. Da gibt's Beispiele aus der Geschichte dazu Ende nie. Also darauf achten: Wann ist die sensible Phase? Beobachten und wissen, bei manchen Dingen kann man es wissen ungefähr, manche muss man beobachten, und dann die Sachen den Kindern beibringen. Das ist ein zweiter ganz wichtiger Eckpfeiler. Gewaltfreiheit ist auch ein sehr wichtiger Eckpfeiler und zwar Gewaltfreiheit in Sprache und in Aktion. Weil wir sind ja sehr stolz darauf, dass wir unsere Kinder in der Schule nicht mehr schlagen. Aber anbrüllen tun wir sie schon. Und das ist so ein ganz wesentlicher Unterschied und etwas ganz was Wichtiges. Dann haben wir die freie Wahl der Arbeit und die korrekte Verwendung der Materialien. Und das passt so mit diesem ersten Punkt: Verlange nichts, was du nicht unterrichtet hast. Sie unterrichtet mit Materialen, die man angreifen kann, die dreidimensional sind, die man spüren kann, die man fühlen kann. Nach dem Grundsatz: Was du nicht in der Hand gehabt hast, wird nie in deinem Kopf drinnen sein. Und das ist ein ganz wichtiges Konzept. Also nicht den Kindern was vorbeten, sondern sie das erleben und entdecken lassen.
Bevor wir in die Biografie von Maria Montessori, die ja doch relativ abwechslungsreich ist, einsteigen, könnten sie kurz skizzieren, was Sie an der Montessori-Pädagogik fasziniert?
Was mich wirklich fasziniert, ist, dass es so wissenschaftlich ist. Dass jedes Ding, was sie jemals behauptet hat, dass ich dafür mehr als eine wissenschaftliche Studie präsentieren kann, die beweist, dass es genauso stimmt. Egal ob sie von äußerlicher Ordnung im Raum spricht, von Platz, den jedes Kind für sich braucht, der manchmal größer und kleiner sein kann, aber doch Platz. Jedes Detail ist heute wissenschaftlich nachgewiesen, und das ist einfach faszinierend. Und natürlich die Persönlichkeit, eine sehr schillernde Persönlichkeit, eine Weltbürgerin, die überall zu Hause war. Und das ist etwas, was mir auch sehr, sehr entspricht.
Schillernd inwiefern?
Sie war charismatisch, sie war sehr, sehr charismatisch. Man sagt über sie, sie ist aufs Podium gegangen, um einen Vortrag zu halten, sie hatte keinen Zettel mit, sie hatte keine Notizen mit und sie hat einfach frei gesprochen. Sie hat die Leute in ihren Bann gezogen. Und das ist schon eine Gabe. Und ich denke, das hat auch ganz maßgeblich dazu beigetragen, dass wir heute Maria Montessori kennen und nicht die Vorläufer Séguin oder Itard.
Und in welchem Umfeld hat Maria Montessori ihre Lehren entwickelt? Weil sie ist Jahrgang 1870. Damals war ja noch das durchaus ein Umfeld von Gehorsam, von Prügelstrafe, von dem Lehrer folgen um jeden Preis. In welchem Umfeld bewegt es sich da diese Reformpädagogik? Und welche Auswirkungen oder welche Implikationen gibt da der medizinische Hintergrund der Maria Montessori?
Das sind eigentlich zwei Fragen. Also das eine ist: Ja, das Umfeld war extrem restriktiv. Gewalt in der Erziehung, auswendig lernen, dem Lehrer folgen, der Lehrer steht im Mittelpunkt, niemand hat einen eigenen Willen. Mädchen, ja, sollen gebildet sein, damit sie dann gebildete Hausfrauen werden, vom Prinzip her. Aber ich denke, dass man Maria Montessori nur verstehen kann, wenn man auch ihre Familie versteht. Sie ist sehr, sehr geprägt worden von ihrer Mama, die auch gebildet war und ihre Tochter gefördert hat. Und ich denke irgendwie, wir wissen nicht, warum diese Familie nur ein Kind hatte. Aber dieses eine Kind hat die gesamte Liebe, die gesamte Zuwendung bekommen der Eltern. Die Mutter hat immer diesen Freiheitsdrang der Tochter unterstützt und gleichzeitig, und das ist ein ganz wichtiger Aspekt dieser Pädagogik, die Liebe zum Mitmenschen unterstützt. Also Maria Montessori hat als kleines Mädchen Handschuhe gestrickt und Hauben gestrickt für arme Kinder, die nichts zum Anziehen haben. In Rom ist es auch kalt im Winter. Und diese Prägung durch die Familie, schau auf den anderen, schau, dass es dem anderen gutgeht, mir geht es besser, schau, dass es dem anderen auch besser geht, gleichzeitig Bildung. Und gleichzeitig hat die Mutter sie auch unterstützt, wenn sie ihre eigenen Wege gehen wollte. Weil als Mädchen ein technisches Gymnasium zu machen, war schon der erste, ich sage jetzt mal, Ausreißer, der gar nicht gepasst hat. Und sie war so eine Ausreißerin. Und ich denke, sie wäre die nie geworden, hätte sie nicht die Mama gehabt, die immer hinter ihr gestanden ist: „Passt schon, mach das! Und wenn der Papa nein sagt, mach’s trotzdem!“ Und das weiß man, dass das auch wirklich so war, dass die Mama sie gestützt hat in ihrem Willen. Der Papa war immer dagegen, und im Endeffekt war er dann doch glücklich, weil es war ja schließlich seine Tochter.
Woher weiß man das? Also welche historischen Quellen gibt‘s, die man da heute noch bemühen darf?
Da gibt's Briefe, Aufzeichnungen, Tagebuch, solche Dinge. Also Maria Montessori hat auch Tagebuch geführt. Und aus diesen Dingen weiß man, was sie gedacht und was sie gefühlt hat zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens, und daraus kann man das rauslesen.
Eigentlich eine Fundgrube für Historiker. Weil je mehr geschrieben wird, desto mehr Freude für die historisch Forschenden. Ich denke da nur an Maria Theresia oder auch an Kaisern Elisabeth, die aber dann verfügt hat, dass ihre Tagebücher vernichtet werden sollten. Das vielleichtaus gutem Grund, wir wissen es heute nicht. Aber offenbar ist die Schreiblust dann auch ein Motivator für den Forschungsdrang hier.
Auf jeden Fall, auf jeden Fall. Also ganz, ganz viele Dinge, die Befindlichkeit, wie ihre Befindlichkeiten waren, das wissen wir aus ihren Tagebüchern zum größten Teil. Also auch, wie sie sich dann im späteren Medizinstudium gefühlt hat. Da gibt es ganz spezifische Einträge, wo sie sich wirklich allen Kummer von der Seele schreibt.
Erste Ärztin Italiens, hab ich mal gelesen. Stimmt das genau so oder ist das dann doch ein bisserl Propaganda?
Es ist sicher bisserl Propaganda drinnen. Man formuliert heute meistens vorsichtiger. Real ist oder Realität ist, dass es damals nicht erlaubt war, dass Frauen Ärzte werden, weil es war nicht okay, dass eine Frau und ein Mann gleichzeitig einen nackten Körper anschauen. Und das ist ja beim Medizinstudium so, wenn sie sezieren. Der Körper ist zwar schon tot, aber gleichzeitig draufzuschauen ging nicht. Und sie wurde auch gemieden von ihren Kommilitonen, hat da sehr, sehr viel mitgemacht während ihrem Studium. Auch lösungsorientiert immer: Wie kann sie mit Situationen umgehen, also sie hat zum Beispiel in der Nacht seziert. Das war sehr unheimlich, es hat gestunken nach den Konservierungsmitteln der Körper. Und sie hat sich dann einen engagiert, der daneben gesessen ist und geraucht hat, damit es nicht so stinkt. Also eine lösungsorientierte Person: Ich seh da was, aber ich finde eine Lösung. Ich bleib dran, ich bleib dran, ich bleib dran! Und man sieht aber, wie sie oft doch auch gelitten hat, das erkennt man dann aus den Tagebüchern.
Ich würde noch gerne zu sprechen kommen auf die Zeit als Medizinerin und die Arbeit mit -heute würde man sagen - lernbehinderten Menschen. Damals hat man das wahrscheinlich etwas anders tituliert. Was hat es damit auf sich?
Maria Montessori wollte deshalb Ärztin werden, weil sie Kindern helfen wollte. Das war ihr Motiv. Ihr Motiv war nicht Rebellion, sondern ihr Motiv war, ich möchte Kindern helfen. Deswegen hat sie sich auch auf Kindermedizin spezialisiert, hat über ein psychiatrisches Thema promoviert und hat dann begonnen, auf was wir heute eine psychiatrische Kinderklinik nennen würden zu arbeiten. Also das war ihr Motiv, Kindern zu helfen. Damals war eine psychiatrische Klinik nicht das, was wir heute darunter verstehen. Das war eigentlich schlechter als ein Gefängnis heute. Also mehr eine Folterkammer für Kinder. Viele der Kinder, die dort waren, waren überhaupt keine Patienten, sondern Kinder von Patienten der Erwachsenen-Psychiatrie. Manche Kinder waren vielleicht ein bisschen verhaltensauffällig. Ich würde mit bisschen eher sprechen. Und sie war dann dort als Ärztin. Und mit dieser Motivation, den Kindern zu helfen, ist sie da durch die Zimmer gegangen und durch die Räume gegangen, hat gemerkt, als Medizinerin kann ich hier nichts ausrichten. Das ist kein medizinisches Problem, das sind keine medizinischen Probleme, sondern das sind pädagogische Probleme. Das heißt, sie hat mit dem Auge der Wissenschaftlerin, dem Auge der Ärztin die Kinder betrachtet und hat gemerkt, es ist die Erziehung, die Bildung, die den Kindern fehlt. Das ist eine ganz, ganz eine wichtige Sache, weil das ist etwas, was zum Beispiel heute fast nie vorkommt. Wenn ich heute zum Kinderarzt gehe und sag, mein Kind hat dieses, dieses, dieses Problem, es entwickelt das oder das nicht, der Kinderarzt würde mir dann sagen: Es ist eh alles gesund, weil keine Lungengeräusche, das Herz schlägt normal, der Blutdruck ist normal. Passt eh alles. Weil der Kinderarzt normalerweise nicht auf solche Sachen schaut. Und da sieht man das Besondere an dieser Frau, dass sie einfach tiefer geschaut hat. Sie wurde dann sehr geschimpft, weil sie hat ja beobachtet, dass die Kinder, die in komplett kahlen Räumen waren, mit dem Brot, das sie bekommen haben, begonnen haben zu spielen und zu kneten und sich zu beschäftigen. Und sie fand das total spannend. Und die Leute, die mit ihr geschimpft haben, haben gesagt: Die sollen ordentlich essen, was ist denn das? Und sie hat gesagt: Beschäftigung fehlt ihnen. Sie hat da begonnen zu schauen: Was kann man den diesen Kindern geben? Und immer den Hintergrund, es war nicht irgendeine Philosophie, die sie sich ausgedacht hat, sondern eine wissenschaftliche Beobachtung, empirische Wissenschaft. Schauen, beobachten, Schlussfolgerungen ziehen. Und dann die Hypothese, welches Material funktioniert, was funktioniert, bewiesen, ja oder nein? Wenn es funktioniert, ist es gut, wenn es nicht funktioniert, weg damit. Also wirklich empirische Forschung.
Wobei man da ja schon eine gewisse Wandlung auch beobachten kann. Ich denke an die Eröffnung des Narrenturms im 18. Jahrhundert. Dieser Turm hatte ursprünglich auch keine Zellentüren, also Türen wurden erst nach eingebaut. Und man hat Schritt für Schritt mit einer aus heutigen Maßstäben gefängnisartigen Struktur doch versucht, die Zustände, die damals herrschten, zu verbessern. Und das führt mich zu meiner nächsten Frage, nämlich: Wie kam es denn dann von diesem sehr medizinischen Fokus hin zur Entwicklung eines pädagogischen Konzepts?
Sie hat die Kinder gesehen, beobachtet und hat dann sich gefragt: Was kann ich tun, um ihnen zu helfen? Tabletten helfen nicht, Operationen helfen nicht, also die medizinischen, klassischen Methoden helfen nicht. Sie ist auf die Uni-Bibliothek gegangen, Tante Google war damals noch nicht erfunden. Sie hat geschaut: Hat irgendjemand schon mal mit solchen Kindern gearbeitet? Sie hat da die Werke von Itard und Séguin gefunden, Französisch konnte sie. Sie hat die Werke gelesen und war so begeistert, so aufgewühlt, dass sie die handschriftlich ins Italienische übersetzt hat. Und sie hat dann die Materialien, die in diesen Werken beschrieben waren, zum Teil aufgezeichnet waren, hat sie dann anfertigen lassen. So die aus Holz waren, hat sie einfach zu irgendeinem Handwerker gesagt: So, so, so, so muss das sein, hat sie anfertigen lassen, mitgenommen aus ihrer eigenen Initiative, und die Kinder benutzen lassen. Einfach nach den Anleitungen dieser beiden Männer hat sie dann gearbeitet und das umgesetzt. Und viele der Materialien, die wir heute Montessori-Materialien nennen, sind eigentlich Séguin-Materialien. Die hat sie nicht erfunden, die hat sie nachgemacht. Das heißt, von der Uni-Bibliothek hat sie sich das Wissen geholt und die Frau Doktor hat es quasi dann umgesetzt. So wie ein Kinderarzt, der heute die nächste Meile gehen würde und sagt: Ich schaue mir das an, was haben Sie denn für Probleme mit dem Verhalten ihres Kindes oder mit der Entwicklung ihres Kindes?
Apropos Kinder: In der Montessori-Pädagogik hat das Kind die Freiheit der Wahl. Und ich hab mit der Shirin Anisoldoleh in der Vorbereitung lange drüber diskutiert, weil diese Freiheit der Wahl auch immer wieder missverstanden wird, sagen zumindest Kritiker. Wie würden Sie denn das auslegen? Darf das Kind alles wählen? Oder gibt einen Rahmen, so wie es Montessori auch beschreibt? Und wenn ja, wie schaut der aus?
Der Rahmen entspricht immer der Entwicklung des Kindes. Und das muss ich als Erziehender, sei es Mutter, sei es Kindergärtnerin, sei es Lehrerin, muss ich abschätzen. Deswegen ist die Beobachtung so wichtig. Das Kind darf wählen, weil dann macht es auch mit. Aber kindgerecht wählen! Das heißt, das Kind darf sich nicht aussuchen zu Hause: Gehe ich jetzt schlafen oder gehe ich nicht schlafen? Aber es darf sich aussuchen: Darf ich den grünen oder den roten Pyjama anziehen? Darf ich den Teddybär oder die Mietzekatze mit ins Bett nehmen? Also Stofftier. Kindgerechte Möglichkeiten. In einem Kindergarten, in einer Schule darf das Kind aus den Materialien wählen, die der Lehrer vorher vorbereitet hat. Aber das Kind kann nicht wählen, es benutzt jetzt die roten Stangen als Schwerter, weil es gibt eine Benutzung dafür. Genauso darf das Kind auch zu Hause nicht aussuchen, ich benutze das Brotmesser als Schwert. Nein, das ist ein Brotmesser. Also sie ist da ganz, ganz stark: Wofür ist das Material da? Dafür darf ich es benutzen. Welches Material möchtest du benutzen? Das habe ich aber als Erwachsener vorher vorbereitet, weil ich kann abschätzen, was ist für dich passend. Also, Kinder können sich nicht aussuchen, etwas zu tun, was außerhalb von Höflichkeit, Respekt, Freundlichkeit, Gewaltfreiheit, Frieden Benehmen oder außerhalb von der Benutzung der Materialien da ist. Was auch heute ein wissenschaftliches Erkenntnis ist: Wenn man Kinder sieht, die Materialien anders benutzen, als sie gedacht sind, dann hat man schon einen ersten Hinweis, dass es hier irgendein psychiatrisches Problem geben kann. Also, ich benutze das Auto als Puppe. Dann muss ich als Pädagoge oder psychologisch schon schauen, was ist mit dem Kind los: Ein Auto ist ein Auto und keine Puppe.
Ja gut, aber wenn ich jetzt ein bissl überspitzt formuliere und die Dinge auf die quasi ironische, fast schon überzeichnende Art formuliere: Wenn das Kind wählen darf, ob es Deutsch, Englisch oder Mathematik macht, und es wählt immer nur Deutsch und Englisch und niemals Mathematik, das kann doch nicht funktionieren, oder doch?
In der Praxis funktioniert es. Es kommt alles auf das Geschick drauf an und auch auf die Präsentation. Wenn ich jetzt ein Kind habe, das sehr, sehr sprachlich und geisteswissenschaftlich interessiert ist und es wählt tatsächlich Deutsch und Englisch und Literatur und Geschichte und was auch immer und hält sich von der Mathematik fern: Ich als Lehrer in diesem Fall, weil das ist ja dann eine Schule, muss mir überlegen: Wie kann ich denn das Kind dazu kriegen, dass es sich dafür interessiert? Und das Kind, das so geisteswissenschaftlich interessiert ist und so sprachlich, da werde ich finden die Biografie von einem Mathematiker, eine Geschichte aus der Mathematik. Wie hat der Mathematiker das gefunden? Das sind dann die kosmischen Geschichten, mit denen man als Lehrer das Interesse der Kinder entzündet, die spannend präsentiert werden und wo ich dann die Kinder abholen kann.
„Die Freiheit unser Kinder hat als Grenze die Gemeinschaft. Denn Freiheit bedeutet nicht, dass man tut, was man will, sondern Meister seiner selbst zu sein.“
Maria Montessori aus „Grundlagen meiner Pädagogik“, 1968
Mich würde jetzt interessieren: Wir haben die Montessori-Pädagogik als solches, wir haben die Freiheit und die Motivation abgehandelt. Aber was Montessori mit Inklusion zu tun haben soll, haben wir jetzt eigentlich noch nicht angekratzt. Wie passt denn das zusammen, wenn man jetzt einmal grundsätzlich davon ausgeht, dass Montessori-Pädagogik auf einen wertschätzenden Umgang miteinander ganz generell setzt und auch mit den Kindern einen wertschätzenden Umgang fordert, was wir für die damalige Zeit sicher neu war, aber heute wohl nichts mehr Neues ist?
Das ist ganz einfach erklärt: Sie hat begonnen, mit Kindern zu arbeiten, die Patienten auf der Psychiatrie waren. Das wäre jetzt Sonder- und Heilpädagogik nach unserer heutigen Diktion. Sie hat danach mit sozialschwachen Kindern gearbeitet. Das wäre eine Brennpunktschule nach unserer heutigen Diktion. In den USA haben die Reichen und Schönen, sage ich jetzt mal, Filmstars, Millionäre, die Montessori-Pädagogik für sich entdeckt und haben gesagt: Bitte mach eine Schule für uns! Ihr Sohn hat dann eine Schule aufgemacht und von dieser Schule hat das ja gut gelebt in den USA. Die war für die Reichen und Schönen, sag ich jetzt mal, und das ist genau dieser Aspekt. Das heißt, ich kann mit dem gleichen Material, mit den gleichen Prinzipien jedes Kind unterrichten, absolut jedes! Ob dieses Kind eine Autismus-Spektrum-Störung hat, vielleicht gepaart mit einer geistigen Behinderung, das funktioniert. Ich kann mit diesem gleichen Material ein Kind mit einer Hochbegabung unterrichten, irgendeine Hochbegabung oder eine Hochbegabung, die gepaart ist mit irgendeiner Schwäche in einem anderen Bereich, zum Beispiel jemand mit Asperger-Syndrom, möglich. Und die können im gleichen Klassenraum sitzen, weil Maria Montessori hat gesagt: Der Weg, auf dem die Schwachen sich stärken, ist genau der gleiche Weg, auf dem die Starken sich bilden. Das heißt, die gehen den gleichen Weg, aber nicht im gleichen Tempo. Und ich kann im gleichen Klassenraum mit dem gleichen Material die Durchschnitts-Kinder unterrichten. Wobei Durchschnittskinder für mich jetzt als Pädagogin und auch als Wissenschaftlerin ein gefährlicher Begriff ist, denn wir wissen, dass unser Schulsystem den Kindern ihre Begabungen und Interessen abgewöhnt. Weil wir wollen ja ein Durchschnittskind haben, das von jedem bisserl weiß, aber von nichts zu viel. Weil würde ich jetzt in Mathematik ein „Nicht genügend“ haben, dann würde ich jetzt heute nicht als Akademikerin hier sitzen. Aber tatsächlich hat mich in der Schule das Bemühen um eine positive Mathematiknote davon abgehalten, in den Bereichen, wo ich Interesse und Begabungen hatte, mich mehr zu interessieren und besser zu werden. Das konnte ich erst machen, als ich die Matura hinter mir hatte. Und das ist genau dieser Inklusionsaspekt. Ich kann hier Mathematik und da Geografie und dort Mandarin und dort Integralrechnung unterrichten im gleichen Klassenzimmer. Und ich kann ein Kind haben mit Dyskalkulie, das kämpft mit eins bis zehn, und ich kann ein Kinder haben mit einer mathematischen Hochbegabung. Und die zwei Kinder sind Freunde und sitzen gleichzeitig im gleichen Klassenraum. Und das ist Inklusion.
Aber dass das Inklusion ist oder sein kann, bestreitet ja niemand. Mich würde interessieren: Wenn alle sozusagen sich auf denselben Weg machen und nur in unterschiedlichen Geschwindigkeiten gehen, wie stellt man dann sicher, dass man nicht von einem vorgegebenen Weg vielleicht auch abweichen kann? Also wenn ich jetzt Kinder hab, die vielleicht in einem herkömmlichen Schulsetting gar nicht so gut aufgehoben sind, oder umgekehrt, wenn ich hochbegabte Kinder habe, die andere Interessen haben, ist es wirklich immer dasselbe Weg, den alle gehen?
Es ist nicht exakt derselbe Weg. Ich hab ein Kind, das brennt für Musik, klassische Musik, und möchte Harfe lernen. Soll ich das Kind nicht darin stärken? Und womit kann man mir erklären, dass jemand, der sich für Handwerk total interessiert und von Holz begeistert ist, wozu braucht er Englisch? Den soll ich doch fördern, mit den Händen und mit Holz zu arbeiten. Wir scheren alle über einen Kamm und damit machen wir die Begabungen weg. Und ich glaube, der gleiche Weg ist, ich gebe allen die Möglichkeiten, auf den gleichen Weg zu gehen. Und ich sage dem einen Kind: Wenn du Deutsch, Englisch, Französisch und Mandarin im ersten Schuljahr beherrscht, und solche Kinder gibt's, ist es super. Und wenn du erst in der dritten Klasse das Niveau Mathematik irgendwas erreichst, ist mir das egal, weil du bist auf dem Weg, du bildest dich. Wir können ja nicht alle das Gleiche. Allein mein Bruder und ich: Wir sind gleiche Mama, gleicher Papa, wir waren in den gleichen Schulen. Und der kann komplett andere Sachen als ich, und wir sind im traditionellen Schulsystem. Also das passiert im traditionellen Schulsystem auch nicht. Das traditionelle Schulsystem sagt bloß: Wenn du irgendwo nicht durchschnittlich bist, dann fällst du durch! Und damit lassen wir Hochbegabte durchfallen. Wir lassen Hochbegabte durchfallen, was schon andere Schulsysteme auf dieser Erde nicht tun, weil wenn ich ein anderes Schulsystem hernehme, zum Beispiel mein Mann hat mir das erklärt, wo er herkommt: Wenn die Durchschnittsnote passt, kann man aufsteigen, auch wenn Mathematik nicht genügend ist. Das heißt, wenn er in Deutsch, englisch, Französisch sehr gut hat, Geschichte Dreier und Geographie Dreier, kommt er durch, weil der Durchschnitt geht sich aus. Aber in Österreich würde ich nie durchkommen. Und das obwohl das Schulsystem, aus dem er kommt, sehr hinterwäldlerisch ist, sage ich mal, und antiwissenschaftlich, aber das ist schon in diesem Bereich mehr montessorisch. Weil wozu brauche ich heute die Integralrechnung? Seit ich die Matura hab, hab ich sie nicht mehr benutzt. Wozu habe ich mich damit geplagt? Und das sind viele andere Dinge. Man soll es den Kindern anbieten, weil manche interessieren sich und werden besser und besser und man muss jedem die Möglichkeit geben. Und auch das ist Inklusion, weil tatsächlich ist es ja heute so, dass die Kinder von den Akademikern auf die Uni gehen und die Kinder von den Arbeitern nicht auf die Uni gehen in Österreich. Für Montessori ist das auch das Unding des Jahrhunderts, weil sie ist ja die, die bewiesen hat, dass egal, was dein Hintergrund ist, wo du herkommst, ist egal. Wenn ich dich richtig unterrichte, kann jeder alles erreichen. Das hat sie bewiesen. Und ganz Italien war geschockt, dass die Kinder, denen man gesagt, der kann nicht einmal lesen und schreiben lernen, die sind genetisch dazu veranlagt, Analphabeten zu sein. Das ist ein Konzept, das müssten wir heute in alle Brennpunktschulen bringen. Die Ausländer, 80 Prozent, die nicht Deutsch sprechen! Wenn wir diese Montessori-Konzepte hineintragen, sogar ohne Material, nur dieses Gedankengut, jedes Kind kann alles erreichen, wenn ich es richtig unterrichte, dann würden unsere Schulen komplett anders ausschauen.
Aber ist das nicht genau utopisch zu dem oder diametral entgegengesetzt zu dem, was Sie vorher gesagt haben? Weil wenn jedes Kind alles erreichen kann, aber vielleicht gar nicht alles erreichen soll, weil der eine vielleicht eher Begabungen im musischen Bereich, der andere im mathematischen Bereich, der Dritte im sprachlichen Bereich hat, warum muss dann jeder alles erreichen? Also das erschließt sich mir jetzt nicht ganz.
Alles erreichen in dem Sinne: Ich darf es erreichen und ich werde gefördert darin, es zu erreichen.
Apropos gefördert, biografisch gesehen: Es gibt ja bei Maria Montessori sehr viele Stationen. Sie ist weltweit gereist, um ihre Ideen zu propagieren. Unter anderem mal in Österreich, wo sie dann das Haus der Kinder besucht hat, nicht gegründet hat. Aber welche Stationen der Biografie der Maria Montessori waren denn für das Vermächtnis rückwirkend betrachtet am wichtigsten?
Ich würde sagen, ihre Kindheit, weil das hat ihre Motivation gebracht. Ich würde sagen, die Arbeit in der Psychiatrie, weil das hat sie komplett geöffnet gegenüber allen Menschen. Und vielleicht die zehn Jahre in Indien, wo sie gearbeitet hat, als wäre sie in Italien oder in Frankreich oder sonst wo in Europa, sie hat genau gleich weitergearbeitet. Es war ihr wurscht, wo sie war, sage ich jetzt mal. Und sie hat mit indischen Kindern, mit indischen Lehrern gearbeitet, Und ich denke, das hat auch sehr, sehr viel ausgemacht. Vielleicht ist es auch die Tatsache, zwei Weltkriege miterlebt zu haben, was sie, ich denke, zu so einer Fanatikerin für den Frieden gemacht hat. Vielleicht ist es auch die Trennung von ihrem Sohn, den sie nicht aufziehen durfte. Das wird oft anders dargestellt, aber den sie nicht aufziehen konnte und nicht durfte in der damaligen Gesellschaft. Und ich glaube, dass das auch ganz, ganz stark motivierend gewirkt hat für sie, sich einzusetzen für jedes einzelne Kind. Und irgendwie glaube ich persönlich auch, dass die Liebe zu ihrem Sohn durch die Trennung größer geworden ist. Weil dieser Sohn hat sie selbst gefragt: „Bist du meine Mama? Du kommst mich so oft besuchen, bis du meine Mama? Bist du meine echte Mama?“ Und sie hat dann ja gesagt, und dann hat er entschieden, und jetzt gehe ich mit meiner Mama, auch wenn ich offiziell nicht der Sohn bin. Da muss so eine starke Bindung gewesen sein und gleichzeitig muss aber auch diese Pflegefamilie so liebevoll gewesen sein, weil ja der Mario sein ganzes Leben lang bis zu seinem Tod den Kontakt gehalten hat mit seinem Milchbruder, der mit ihm aufgezogen wurde. Die waren verbunden, die haben sich geliebt wie biologische Brüder. Und ich glaub, dass das auch ganz, ganz wichtig ist für die Entwicklung ihrer Pädagogik: Diese ganz starke, ganz starke Beziehung zu ihrem Sohn, auch das Vermissen des Sohnes, glaube ich, hat ihre Motivation noch einmal verstärkt. Damals, im katholischen Italien des 19 Jahrhunderts, war das unmöglich, dass eine alleinstehende Frau ein Kind großzieht. Es gab damals drei Optionen für Frauen, die ungewollt schwanger wurden und nicht verheiratet waren. Es gab die Option 1: Sie bringt sich selber um, damit das Kind auch. Für eine Frau mit so starker Motivation und so starkem Willen wie Montessori war das keine wirkliche Option. Möglichkeit 2 war: Sie geht in ein katholisches Kloster, da kommt das Kind dann in den Weisenheim, sie sieht das Kind nie wieder. Das war die Option 2. Kommt auch nicht in Frage, weil sie hat eine Vision in ihrem Leben. Möglichkeit 3 war: Sie wird Prostituierte, dann kann ihr Kind bei ihr aufwachsen. Und ich denke, dass wir heute im 21. Jahrhundert nicht abschätzen können, wie schlecht und katastrophal die Situation von unehelichen Kindern oder Müttern, die ungewollt schwanger wurden, damals war. Was auch ein sehr schräges Licht auf den biologischen Vater warf, weil der wusste das ja genau. Also man muss sich denken, der war… Ich sag jetzt keine Wörter, die man nicht offiziell sagen darf, aber nicht so ganz … ja. Und vor diesem Licht hat sie doch durchgesetzt: Ich bringe mein Kind auf die Welt, mein Kind kriegt meinen Familiennamen, und ich bestimme, wo mein Kind aufwächst. Sie war nicht getrennt von ihm, sie hat ihn ständig besucht. Deswegen ist er mit 14 draufgekommen zu fragen: Bist du vielleicht meine Mama, weil du so oft kommst, weil du mir so viel Geschenke bringst? Sie hat auch finanziell für ihn gesorgt. Da war eine Verbindung da, die ununterbrochen war.
Gesorgt ist ja ein gutes Stichwort, finanziell gesorgt. Wovon hat sie tatsächlich gelebt? War das Unterrichtstätigkeit? War das das Propagieren des Konzepts? Weil sie ist 1870 geboren und 1952 verstorben mit über 80. Und aus der Biografie ist jetzt nicht überliefert, dass sie ein Leben in Armut geführt hätte.
Sie war aus einer sehr reichen Familie. Sobald ihr Papa verstorben war, hat sie das geerbt. Ganz klar, also sie hat nicht sich Sorgen um Geld machen müssen. Das muss man klarstellen. Und deswegen, das muss man auch verstehen, hat das ganz viel damit zu tun, was sie auch entwickeln konnte. Dann war sie Ärztin, hat ein Gehalt dafür bekommen. Sie hat an der Uni gelehrt, hat hier dafür ebenfalls ein Gehalt bekommen. Und später hat sie dann von Tantiemen gelebt, also Tantiemen ihrer Bücher und der Montessori-Materialien. Weil die Frau war nicht nur eine geniale Pädagogin und Psychologin, muss man wissen, sie war auch eine geniale Geschäftsfrau. Weil sie wusste genau, wie sie ihr Material und ihre Bücher vermarkten muss, damit was für sie rausschaut. Und es ist ganz genau überliefert, wie sauer sie war, wenn sie von irgendjemandem über den Tisch gezogen wurde. Da gibt es so Geschichten aus ihren USA-Reisen, wo sie in riesigen Hallen gesprochen hat und jedes Eintritts-Ticket hat so und so viel gekostet. Und was sie wirklich dafür bekommen hat und wie sauer sie dann nachher war. Oder wo dann Material verkauft wurde und sie hat weniger dafür bekommen, als was ausgemacht war. Da war sie richtig sauer, weil sie wusste schon, wie sie sich vermarktet. Und ich denke, irgendwie nicht nur menschlich toll zu sein, weil man muss menschlich, also man muss so eine emotionale Intelligenz haben, um das rauszufinden, was sie rausgefunden hat, aber auch eine Geschäftsfrau zu sein. Also, eigentlich war sie ein Genie. Und sie hat in späteren Jahren, wo sie nicht mehr als Ärztin gearbeitet hat, nicht mehr als Uniprofessorin gearbeitet hat, von ihren Tantiemen sehr, sehr gut gelebt.
Zwei Fragen brennen mir schon noch unter den Nägeln: Wir haben jetzt die Tantiemen schon angesprochen, auch das Vermarkten. Aber wie schaut es aus mit dem geistigen Erbe der Maria Montessori? Wird das aus Ihrer Sicht heute richtig interpretiert und verwaltet?
Persönlich glaube ich, dass es sehr, sehr wenige Leute gibt, die es richtig interpretieren, vielleicht davor muss man es verstehen. Verstehen, interpretieren und praktizieren. Da gibt es ganz, ganz wenige, also das ist sicher die Minderheit. Ich hab sehr viele Berichte, die mir auch von meinen Kursteilnehmerinnen erzählt werden, wie das tituliert wird, als Montessori-Kindergarten, Montessori-Schule und was dann wirklich dort passiert. Also das ist die Minderheit, wo es wirklich so praktiziert ist, wie sie es gedacht hat und wie wir wissen, dass sie es gedacht hat. Also das ist ganz, ganz klar.
Und welchen Einfluss, würden Sie sagen aus wissenschaftlicher Sicht, hat Montessori-Pädagogik auf unser heutiges Bildungssystem, das Sie ja im Verlauf des Interviews doch immer wieder auch kritisiert haben. Deswegen würde mich die Antwort auf diese Frage umso mehr interessieren.
Also, wir können es nicht verneinen, vor allem in Wien nicht. Weil Maria Montessori hatte geplant, Wien soll das Zentrum für Europa werden, das Montessori-Zentrum für Europa. Das war ihr Plan. Sie hatte Schülerinnen, die ihre Kurse besucht haben. Das waren zum Teil katholische Nonnen, das waren zum Teil gebildete jüdische Frauen, also eine sehr einflussreiche Gruppe von Menschen. Und jeder Kindergarten in Wien hat heute helle Buchen-Regale, die der Körpergröße der Kinder entsprechen. Jeder, jeder Kindergarten hat heute in Wien Stühle und Sessel, also Tische und Sessel, die der Körpergröße der Kinder entsprechen. Jede Schule in Wien die Stühle, die Tische entsprechend der Körpergröße der Kinder. Und das haben wir Maria Montessori zu verdanken, weil das hat sie eingeführt. Und dass die Nazis gesagt haben, das ist alles Schwachsinn, das wollen wir nicht, und alles verbrannt haben. Die Dinge, die sie nicht zuordnen konnten, das montessorisch sei, die sind geblieben. Die Stadt Wien hatte auch geplant, wir wollen alle unsere Kindergärten zu Montessori-Kindergärten machen. Sie selber war nicht im Kindergarten tätig, auch nicht in der Schule, sie hat nur die Kurse gehalten und das regelmäßig. Dann kamen die Nazis dazwischen. Freiheit der Wahl und Gleichheit und alle Menschen sind gleich, auch die, die anders ausschauen als wir. Das hat ihnen nicht gefallen und so wurden alle Institutionen geschlossen und die Bücher wurden auch verbrannt. Sie wurde das zunächst aus Italien verbannt, ist geflüchtet, sie war politischer Flüchtling. Auch das sehr, sehr markant. Auch in Wien war nichts mehr möglich. Alle ihre Schülerinnen mussten flüchten oder ein großer Teil. Also die, die jüdisch waren, das waren ganz viele. Dann ist sie nach Frankreich, da ging dann auch nichts mehr, nach Spanien, da ging auch nichts mehr. Und schließlich ist sie in Indien gelandet. Ja, politischer Flüchtling mit einer langen Fluchtroute. Heute berühmt und bekannt und geschätzt. Ja, was machen wir mit unseren Flüchtlingen? Müssten wir uns auch die Frage stellen, vielleicht sind dabei ein paar Genies.
Die Weltbürgern Maria Montessori verstarb am 6. Mai 1952 in den Niederlanden. Nach Italien wollte sie nicht mehr zurückkehren. Dieses Italien kenne sie nicht mehr, meinte sie.
Das war FreakCasters für heute. Nähere Informationen zu Maria Montessori sowie die Webseite der Ossiris-Akademie finden sich in den Show Notes. Auch einige Buchtipps sind darunter. Das Bild zur heutigen Episode stammt übrigens von einer Banknote. Denn das Porträt von Maria Montessori zierte die 1000-Lire-Note, die von der italienischen Nationalbank ausgegeben wurde. Wenn euch diese Episode gefallen hat, abonniert doch den Kanal und hinterlasst uns4 eine gute Bewertung. Nähere Informationen zu uns und unseren Podcast finden sich auch unter freakcasters.simplecast.com. Auf Wiedersehen und bis zum nächsten Mal, sagt Udo Seelhofer.