Fernando Pereira / Anefo - NATIONAAL ARCHIEF - (CC BY-SA 3.0 NL)
Neue Musik auf der Couch
Luigi Nono: "2°) No hay caminos, hay que caminar ... Andrej Tarkowskij"
Auf insgesamt sieben verschiedene Tonhöhen, nämlich auf die vierteltönige Auffächerung eines "Gs" (in sieben Oktavlagen) konzentriert sich das letzte Orchesterwerk von Luigi Nono: "2°) No hay caminos, hay que caminar ... Andrej Tarkowskij". Diese Konzentration des Materials - überspitzt formuliert - auf eine Tonhöhe, nämlich das "Sol", ist eine der Besonderheiten dieses Werkes und steht im Einklang mit einigen Charakteristika des Spätwerks von Luigi Nono, die - ebenfalls vereinfacht formuliert - unter "Reduktion" (bei gleichzeitiger "Ausdifferenzierung des Reduzierten") zusammengefasst werden können.
14. November 2024, 13:21
Der Titel "2°) No hay caminos, hay que caminar... Andrej Tarkowskij" verweist auf zwei wichtige Inspirationsquellen und bringt auch eine Verortung im Werk von Luigi Nono mit sich. Da ist einmal die Inschrift "Caminantes, no hay caminos, hay che caminar", die Nono auf einer Klosterwand in Toledo gesehen haben will. Zusammen mit anderen Wandererfiguren, so auch dem Wanderer aus Nietzsches "Menschliches, Allzumenschliches II", wird diese Inschrift zu einem wichtigen Impetus, eine Wanderer-Trilogie, deren zweites Werk "No hay caminos, hay che caminar... Andrej Tarkowskij" darstellt, zu erschaffen.
"1°) Caminantes...Ayacucho" heißt das erste Werk dieser Wanderer-Trilogie, auf welches bald "2°) No hay caminos, hay que caminar... Andrej Tarkowskij" folgt. Gemeinhin wird "'Hay que caminar' soñando" für zwei Violinen - das letzte Werk Nonos überhaupt - als Endpunkt dieser Trilogie betrachtet. Allerdings besitzt dieser Titel keine Ordnungszahl. So gibt es gewichtige Gegenstimmen, die die Wanderer-Trilogie als unvollendet betrachten.
In insgesamt sieben Hauptabschnitte ist das Werk gegliedert, deren Enden jeweils von eruptiven Ausbrüchen markiert werden. Solche Ausbrüche stellen allerdings eher die Seltenheit dar; über weite Strecken bewegt sich das Werk in - ausdifferenzierten - Piano-Tönen. Leise Inseln prägen vorwiegend die Klanglandschaft, die von - ausdifferenzierten - Pausen (Momente des Stillstehens, der Reflexion, des Schweigens) umrahmt werden. Oder wird manchmal die Stille von Klängen umrahmt?
Die Zahl Sieben bestimmt nicht nur die Großform des Werkes, sondern ist bis in die kleinste klingende (und schweigende) Faser des Werkes zu verfolgen. In einem Buch namens "Eine Zone des Klangs und der Stille" arbeitet Erik Esterbauer die Allgegenwart dieser Zahl heraus. So ist das Orchester in sieben Gruppen (sette cori) aufgeteilt, das Klangmaterial ist auf die sieben Mikrotöne rund um G beschränkt, diese sieben Mikrotöne erklingen in sieben Oktavlagen. Siebenmal finden sich in dem Werk Fermaten mit der Dauer von jeweils sieben Sekunden.
Auch Vielfache der Zahl sieben werden verwendet. So lassen sich 21 Zellen ausmachen, die in die sieben Hauptteile eingebettet sind. Die Gesamttaktanzahl des Werkes beträgt 169 - diese Zahl ist zwar nicht durch sieben teilbar, aber im Grunde ist die Musik bereits in Takt 168 (das Produkt von 7x24) zu Ende. Der letzte Ton wird nur noch in den Takt 169 überbunden und klingt dort aus: in einer Fermate von sieben Sekunden in ein siebenfaches Piano. Dieses siebenfache Piano ist eine von insgesamt 14 verschiedenen Dynamikstufen.
G ist der 7. Buchstabe des Alphabets und steht für Nono selbst, nämlich für Gigi, die Kurzform von Luigi. Gleichzeitig kann aber dieses G als Sol auch mit Tarkowskij in Verbindung gebracht werden. So heißt es in der Werkeinführung: "Un'anima che mi illumina", also "eine Seele, die mich erleuchtet, erhellt." Das Sol als Sole, also als Sonne, und gleichzeitig möglicherweise auch eine Referenz an den Film "Solaris" von Tarkowskij.
Es sind immer wieder Parallelen zwischen Nono und Tarkowskij festgestellt worden, u.a. die Reduktion, die Langsamkeit, der Kontrast, die Stille. So gibt es beispielsweise einen italienischen Aufsatz von Nicola Cisternino mit dem Titel "Luigi Nono - Andrej Tarkovskij: Caminantes sulla via del silenzio": Wanderer auf dem Weg der Stille. Auch sind konkrete Verbindungen zwischen dem Werk "No hay caminos" und Tarkowskijs Film "Opfer" festgestellt worden.
In einem Gespräch mit dem japanischen Komponisten Toru Takemitsu nennt Nono Tarkowksij "un grandissimo, una grandissima anima, un grandissimo spirito"; also einen ganz besonders großen, eine größte Seele, einen größten Geist. "Una forza morale di grandissima cultura interiore", also eine moralische Kraft von größter innerer Kultur; "determinata a qualsiasi sacrificio pur di riuscire a dire qualcosa", "zu jedem Opfer bereit, nur um etwas auszusagen."
Text: Thomas Wally