Freak-Casters: Inklusion in Bildern - Gerlinde Zickler im Portrait
15. November 2024, 15:38
Herzlich willkommen bei FreakCasters! Am Mikrofon begrüßt euch heute Ronja Nowotny. Bei uns geht es um Inklusion, um Menschen und ihre Leidenschaften. Diese Episode ist der Tullner Künstlerin Gerlinde Zickler gewidmet. Sie feierte im März 2024 ihren 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass wiederholen wir heute einen Klassiker aus unserem Archiv mit dem Titel „Phönix aus dem Gips“. Diese Sendung aus dem ORF-Radio-Café wurde im Februar 2010 erstmals gesendet. Gerlinde Zickler und der 2014 verstorbene Psychotherapeut Kurt Schneider erzählen von ihrer Kindheit und Jugend, die sie krankheitsbedingt im Gipsbett verbringen mussten. Sie waren völlig bewegungslos eingegipst. Im Gespräch mit FreakRadio-Moderator Gerhard Wagner erzählen beide aus ihrem Leben und welche Rolle dabei Freiheit und die Erweiterung von Grenzen gespielt haben.
Freak-Classic – die besten FreakRadio-Sendungen zum Wiederhören.
Herzlich willkommen und guten Abend aus dem ORF-Kultur-Café, sagt Ihnen Gerhard Wagner. „Phönix aus dem Gips“ heißt die heutige Sendung. Der Name ist eine Abwandlung des bekannten Bildes vom Phönix aus der Asche, also jenes sagenhaften Vogels, der in Flammen aufgeht und aus seiner Asche neu entsteht. „Phönix aus dem Gips - mit Fragezeichen“ heißt eben unsere Sendung, weil beide meiner Mitdiskutanten etwas gemeinsam haben: Sie lagen in ihrer Jugend aus unterschiedlichen Gründen im Gipsbett. Was das für ihr späteres Leben bedeutet hat und weil sie heute alles andere als unbeweglich sind, haben wir uns die Frage gestellt, ob die Lebendigkeit ihres Lebens vielleicht etwas mit dem Gips aus der Jugend zu tun hat. Als Erstes begrüße ich Gerlinde Zickler aus Tulln. Aufmerksame Freak-HörerInnen werden sie schon aus früheren Sendungen kennen. Sie haben ja vor ein paar Jahren einen Film über Ihr Leben im Gipsbett gemacht. Was hat Sie dazu bewogen, nochmals dieses Erlebnis zu aktualisieren?
Zu meinem 60. Geburtstag hat es ein großes Fest gegeben. Und Filmemachen haben mich angesprochen. Und es hat also ein kurzes Statement von mir damals gegeben. Und man hat gemerkt, dass die Menschen so beeindruckt waren von meiner kleinen, kurzen Geschichte. Denn ich habe erzählt, dass ich 29 Monate in einem Gipsbett gelegen bin auf der Stolzalpe, wegen Knochen- Tuberkulose und anschließend dann fast bis zu meinem 14. Lebensjahr ein schweres Eisenkorsett getragen habe. Und das hat die Menschen sehr bewegt. Und die haben gesagt: Wie kann man das aushalten? Da sag ich: Das habe ich mir auch schon immer gefragt, wie man das überhaupt aushalten kann, und dass ich jetzt aber gerade das Gegenteil bin. Also ich habe immer so viel Kraft, wo die sagen: Wo du die Kraft hernimmst! Und vielleicht hat es mich aber dazu gebracht, da in diesem Gips drinnen. Und ich wollte immer raus oder es sprengen, ich möchte mich einmal endlich bewegen, ich weiß es nicht. Diese immense Kraft, die bringt man fast gar nicht weg.
Aus dem Film geht hervor, dass Sie sich eigentlich gar nicht mehr erinnern konnten, wie das da in dem Gipsbett gewesen ist.
Das war auch ein wesentlicher Grund, weil sie wollten eigentlich mich dorthin bringen, dass ich das vielleicht wieder fühlen kann oder mir vorstellen kann, aber auch den Menschen, aber es ist sehr schwer vermittelbar im Film. Man kann es nicht einmal filmisch vermitteln.
Da wäre jetzt eigentlich ein guter Zeitpunkt, um zu fragen: Was ist eigentlich ein Gipsbett? Können Sie es wenigstens versuchen, es uns zu erklären? Was ist das? Ein Gips?
Ich habe das erste Gipsbett richtig wahrgenommen mit meinem 13. Lebensjahr. Da hatte ich einen Rückfall von dieser Knochen-Tuberkulose und musste wieder auf ein Sanatorium. Da sind 13- oder 14-Jährige oder sogar Erwachsene noch gelegen in einem Holzgestell, darauf eine Gipsschale. Und da musste man drauf liegen die ganze Zeit. Auf einer harten Gipsschale angepasst. Und ich habe mir gedacht: Um Gottes willen! So musste ich die ganze Zeit auch liegen. Also, jetzt muss man sich vorstellen, als Kleinkind, ich war damals 1,5 Jahre. Ich wollte doch sicher die Arme, die Beine bewegen, den Kopf heben und nichts hast du dürfen.
Aber Sie können sich nicht mehr erinnern, was Sie als Kleinkind gemacht haben? Sie haben es dann erst später erlebt. Darüber reden wir vielleicht in der nächsten Runde. Jetzt möchte ich aber den Herrn Kurt Schneider begrüßen. Sie sind Psychotherapeut aus Wien-Hernals. Sie sind auch im Gipsbett gelegen. Nachdem Sie geschmunzelt haben, wie ich gesagt hab, aus unterschiedlichen Gründen, nehme ich fast an, ich habe das falsch gesagt, wahrscheinlich war es dann doch derselbe Grund. Sie können sich aber noch erinnern, wie war das damals?
Es gab einige Parallelen und die gleiche Ursache. Und auch das gleiche Spital. Ich hab noch innere Bilder aus dieser Zeit. Also von dieser harten Schale, die den Oberkörper immer in Stillstand bringt. Der Sinn und Zweck war, dass die Wirbelsäule nicht bewegt wird, und dass das alles steif liegt. Und die Anekdote habe ich nicht persönlich erlebt, aber sie wurde mir berichtet: Mich haben sie anbinden müssen. An das Gipsbett und ums Gipsbett haben sie mir zwei Gurte gegeben und eines Tages haben sie mich am Boden krabbelnd gefunden. Das war mein Lebens- und Überlebensdrang so groß, dass ich es in dieser Enge nicht mehr ausgehalten habe.
Wie alt waren Sie denn, als Sie dorthin gekommen sind?
Ich war, genauso wie Sie eigentlich, anderthalb Jahre alt. Und bin eigentlich bis zu meinem sechsten Lebensjahr in der Klinik gewesen.
Das heißt, die Ursache war die gleiche, in beiden Fällen Knochentuberkulose. Und damals hat man, das war in den 50ern oder 40ern …
46. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Da hat es keine Antibiotika und nix gegeben, die einzige medizinische Methode war Ruhigstellen.
Auf einem Sanatorium in den Bergen war das?
Ja. Erinnert so ein bisschen an Thomas Mann und den Zauberberg.
Frau Gerlinde Zickler, Sie haben das jetzt im Film ja noch einmal durchgemacht, noch einmal erlebt, Sie haben sich noch einmal eingipsen lassen. Das wird ja eindeutig und mit eindringlichen Bildern dokumentiert. Wir haben das dann auch auf der Homepage, wo Sie vor und nach dem Eingipsen waren. Jetzt können Sie sich ja erinnern: Was war das für ein Erlebnis für Sie, da noch einmal in dieses Korsett zu kommen?
Es war sehr beeindruckend. Weil man kann sich überhaupt nicht bewegen. Also man muss ja mal eine Schale machen, man muss ja dieses Gipsbett konstruieren. Und mir hat man auch erzählt, dass es wirklich, du wirst wirklich eingegipst, und das wird dann halbiert. Es wird dann getrennt, und dann wird es halbiert, weil man liegt da dann nur auf der Schale. Aber zuerst bist du eingegipst und man muss ja warten, bis der Gips hart wird. Also in diesem Film, also das war wirklich...
Wie lange habt ihr da warten müssen?
Das geht dann ziemlich schnell. Also am Anfang ist es eiskalt, wie in einem Eisberg, und dann wird er auf einmal immer wärmer, immer wärmer, heiß, heiß, heiß... Also er erwärmt sich, der Gips. Wenn er hart wird, wird er warm. Und sie haben drinnen dann eine Folie reingelegt, damit da nichts durchgehen sollte, aber trotzdem ist mir sehr heiß geworden. Ich habe mir gedacht, hoffentlich können sie ihn bald aufschneiden.
Haben Sie sich in diesem Moment an Sachen von früher erinnern können? Ist Ihnen das irgendwie vertraut vorgekommen, oder haben Sie das gar nicht mehr wiedergefunden?
Nein, ich habe doch diesen Gips sprengen, mit Gewalt sprengen wollen. Also wirklich so rausspringen, weg mit dem allen. Also ob das in mir so bewusst geworden ist? Wirklich, ich habe mir das so gar nicht vorstellen wollen.
Ja. Ja. Ja. Herr Schneider, Frau Zickler hat vorhin gemeint, vielleicht stammt diese Lebendigkeit, die sie hat, aber die Sie auch haben wahrscheinlich, aus diesem Gipsbett. Können Sie damit was anfangen, dass das eine Art Ausbrechen dann gewesen ist? Sie hat es ja jetzt gerade auch so beschrieben: Sie wollte aus diesem Gips unbedingt raus.
Ich glaube schon, dass diese Lebendigkeit so die Quelle von damals war, das Hinaus. Eben wie du sagst: neu entstehen, entstehen, wachsen, wachsen, Freiheit, Beweglichkeit. Bei mir, ich habe das aber nicht als eruptiv oder plötzlich erlebt, sondern als langsamen, langen Prozess.
Herr Schneider, Sie haben vorhin gerade erzählt den Beginn des Lebendigseins. Wann haben Sie denn eigentlich diesen Gips endgültig hinter sich lassen können?
Erst mit 16. Und genau zu dem Zeitpunkt, wo sich die Wirbelsäule so verschlechtert hat, dass ich operiert werden musste und ich seither einen Querschnitt habe.
Durch die Operation gekommen?
Durch die Operation. Es war nicht mehr zu machen. Damals war die Technik, die Medizintechnik, einfach nicht so weit, dass sie es anders machen hätten können.
Und wie sind Sie dann letztendlich dazu gekommen, dass Sie Psychotherapeut geworden sind? Das war ja wahrscheinlich nicht gleich, aber wie war dann Ihr beruflicher Werdegang? Was haben Sie dann gemacht?
Eigentlich, wenn ich aus der Ur-Gipsbettzeit anfangen darf, habe ich damals gelernt, an das kann ich mich innerlich noch immer sehr gut erinnern: Wir sind damals auf einer Terrasse gelegen, Winter und Sommer zugedeckt und beobachten und wahrnehmen. Und ich habe genau wahrnehmen müssen und beobachtet, wie vor allem das Personal reagiert. Wenn ich etwas wollen habe, etwas essen, Wasser, komme ich bei der an? Kriege ich das, was ich wollen will? Und das war für mich sozusagen die Wurzel der Neugierde, dieses Interesse an dem Du, an den Menschen. Ursprünglich, um meine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Und ich habe dann zuerst eine Behinderungsausbildung gemacht, die kaufmännische Ausbildung. Da habe ich 10 Jahre gearbeitet, dann bin ich umgestiegen mit 30, da war ich schon 30. Ich habe die Sozialakademie gemacht und habe mich dann eigentlich in einen fast 10-jährigen Selbsterfahrungsprozess begeben, die ganzen Sachen aufgearbeitet und habe mir zum Teil wieder diese Bilder und diese Erinnerungen zurückgeholt. Und in dieser Zeit bin ich daraufgekommen, dass Menschen mit mir gerne reden, um das laienhaft auszudrücken, ihr Herz auszuschütten und auf mich hören. Und irgendwann habe ich mir gedacht, ja, das ist es eigentlich. Ich habe mich dann sehr mit meinem Körper auseinandergesetzt, habe eine Mediationsausbildung gemacht und habe dann als Sozialarbeiter freiberuflich begonnen zu arbeiten. Und habe dann erst, da war ich schon über 30, fast 40, habe ich die Psychotherapieausbildung begonnen.
Also so, wie Sie es jetzt gesagt haben, könnte man das vielleicht so zusammenfassen: Die Erfahrungen vom Gipsbett, die Sie dann für Ihre berufliche Karriere genutzt haben, waren das genaue Beobachten und das genaue Hinhören.
Genau. Und die Neugierde.
Und die Neugierde, die Sie daraus bestimmt haben.
Die Neugierde und die Sehnsucht. Die Sehnsucht, aus dieser Enge herauszukommen. Und die waren so der eigentliche Antrieb.
Frau Zickler, wie war das denn bei Ihnen? Wann haben Sie dieses Gipsbett hinter sich lassen können?
Also ich kann das nur bestätigen. Also er ist Psychotherapeut geworden, ich geh als Clown für die Kinder ins Spital oder zu den alten Menschen, weil wir zuhören können. Und hinschauen. Und hinschauen, ja. Wir haben ziemlich sehr viel Gespür. Wieso? Weil wir haben ja nichts anderes als liegen können. Bis weiß ich wie viel Jahre. Und schauen und beobachten. Und was der macht und was der macht. Man ist mit dem beschäftigt, mit dem Geist beschäftigt.
Sie waren ja auch relativ lange in einem Beruf, wie jeder andere auch. Wie lange waren Sie da? Sie haben dann auch geheiratet, ein Kind bekommen, eine Tochter.
Also mir ist eigentlich gleich gegangen, nur ein bisschen auf eine andere Art. Ich war ja auch in meinem Beruf, wollte immer schon als Kind mich ausdrücken, weil ich hab's ja nicht können, weil ich liegen musste, und ich hatte ein Talent zum Zeichnen und zum Malen und wollte eigentlich Künstlerin werden, was aber damals in der Zeit nicht möglich war, weil Frau, behindert, Künstlerin, das ist ja unmöglich, geht nicht. Da bin ich dann auch in den kaufmännischen Beruf gegangen, nur irgendwo, ich glaube ich war 36, hab ich dann doch zur Kunst gefunden.
Darf ich nur ganz kurz innehalten, weil wir so jetzt im Augenblick den Arbeitsschwerpunkt bei Freak-Radio Lebens- und Arbeitswelten haben, und Sie haben mir vor der Sendung nämlich auch noch etwas zu dem Arbeitsleben erzählt. Wie ist es Ihnen damals gegangen? Ist es leicht gewesen, einen Arbeitsplatz zu bekommen? Oder anders gesagt: Ist es heute leichter als früher, einen Arbeitsplatz zu bekommen? Was ist da Ihre Ansicht?
Also ich muss sagen, es ist beschämend für heute. 40 Jahre sind vergangen, ja, also, denke ich mir. 40 Jahre sind vergangen, und ich war in einer großen Firma, und da waren mindestens 15, 20 Menschen, die eine Beeinträchtigung irgendwo geistig oder so gehabt haben. Die haben ihren Job gehabt, ja? Heute ist es wahnsinnig schwer, und ich denke mir einfach, die Gier, die Gier wirklich, der Druck, weil noch mehr verdienen, noch mehr Geld, die Gier, einfach nicht zulässt, dass man Menschen eben beschäftigt, die nicht so vielleicht mitkönnen, oder dass man wenigstens eine Arbeit findet für sie, oder so. Und ich finde das sehr traurig. Also ich hab die erste Stelle... Ich bin aus Tirol dann nach Niederösterreich gekommen, ich war aus der Schule und habe eine erste Stelle gehabt. Also es war nicht so schwierig, es war dann körperlich für mich, weil das war nicht so vorbereitet wie heute, heute versucht man alles vorzubereiten, den Chef und das und das war früher nicht so.
Sie sind akzeptiert worden?
Ich bin dort sofort akzeptiert worden. Mir war der erste Job zu mühsam, weil ich so lang fahren musste, in der Früh weg zeitig und spät heim, das war mir körperlich zu viel. Dann wollte ich mich verändern, und da ist es dann schwierig geworden. Weil da wollte ich dann halt schon einen besseren Job als Sekretärin, natürlich habe ich nicht so ausgeschaut, wie man sich eine Sekretärin so vorstellt, und da habe ich dann schon ein Jahr gewartet. Ich war halt hartnäckig.
Und diesen zweiten Job haben Sie dann eigentlich bis zur Pensionierung gemacht?
Den habe ich dann fast über 30 Jahre gehabt.
Und dann haben Sie sich entschlossen, wieder zu malen, oder?
Nein, eigentlich schon während der Arbeit. Also gemalt habe ich schon während der Arbeit, das war sehr schwer für mich. Weil ich nachts gemalt habe, dann war es Samstag, Sonntag. Aber trotzdem, nachher wirklich dann die Befreiung, weil ich hab mich auch mit dem Körper beschäftigt, mit mir selber. Mir ist dann selbst diese, wie soll ich sagen, das ist auf einmal gekommen. Ich musste Menschen zeigen, dass man was wert ist, auch wenn man nicht so gewachsen ist, wie man sagt, normal gewachsen.
Ich habe einmal eine Ausstellung von Ihnen gesehen in St. Pölten, wo Ihr Lebenswerk bis damals war. Und da waren die Bilder am Anfang und irgendwo habe ich dann das Gefühl gehabt, das muss wohl das gewesen sein. Irgendwann sind Sie dann ausgebrochen und sind sozusagen für mich authentisch geworden. Sehen Sie das auch so, diese Beschäftigung mit dem Körper?
Ja, sicher. Weil da ist ja nichts falsch. Ich beschönige mich nicht. Es kann aber trotzdem ästhetisch sein. Ich sage immer, der Baum, der verwurzelt, verwachselt, verschoben, verwachsen, das ist ein schöner Baum. Der Mensch darf nicht so sein. Da schaut man weg. Ich wollte es einfach, ich musste es zeigen.
Wie haben denn die Leute darauf reagiert?
Es gibt auch solche und solche. Einige sagen, mutvoll, da ist ein Mut und das ist toll. Leider haben andere gesagt: „Warum muss man sich das anschauen? Das ist ja wie im KZ.“ Das war sehr traurig.
Wie lang ist das schon her, seit Sie sich dazu entschlossen haben?
15 Jahre.
Mittlerweile sind Sie aber in Niederösterreich und über Niederösterreich hinaus eine anerkannte und geehrte im öffentlichen Raum stehende Künstlerin. Sie malen ja nicht nur, Sie haben schon gesagt, Sie treten als Clown auf. Sie machen aber noch sehr vieles andere. Sie haben auch einen eigenen Verein gegründet.
Ja, ich bin Obfrau des Vereins „Miteinander leben“. Aber ich möchte einfach durch Kunst und normales Auftreten eine Barriere abbauen. Dass jeder Mensch einen Wert hat.
Das heißt, Sie öffnen die Kunst eigentlich allen. Kann man das so sagen?
Ja, ich denke mir: Jeder findet eine andere Möglichkeit, etwas beizutragen. Für mich ist es Kunst.
Also ich kann mich erinnern an Live-Performances, wo auch Leute mit Lernbehinderungen dabei waren, mit denen Sie aber durch den Verein „Miteinander leben“ gut bekannt sind. Das ist eigentlich auf sehr positive Zustimmung in den jeweiligen Orten gestoßen. Fühlen Sie sich jetzt bei Ihrer Tätigkeit angenommen?
Ich glaube schon.
Oder sind Sie unzufrieden?
Nein, ja man geht immer ein Stück weiter. Man versucht immer noch ein bisschen, noch ein bisschen, noch ein bisschen. Aber ich glaube, es ist notwendig, man sieht es ja in der Arbeit. Man sieht es, also es ist einfach notwendig, mehr aufzuzeigen und immer noch mehr, weil es ist einfach noch nicht so, wie es sein soll.
Bevor wir zum zweiten Teil der Episode überleiten, hier noch ein paar Infos zu Gerlinde Zickler: Ihr künstlerisches Talent zeigte sich schon während der Schulzeit. Gerlinde wollte eine künstlerische Ausbildung beginnen. Ihre Eltern waren jedoch der Meinung, dass es wegen ihrer körperlichen Einschränkungen besser sei, einen konventionellen Beruf zu ergreifen. Gerlinde lernte Industriekauffrau. Sie arbeitete bis zur Pensionierung 1996 als kaufmännische Angestellte in einem großen Chemiebetrieb und ist seit 1978 in verschiedenen Kunstrichtungen aktiv. Nach ihrer Pensionierung war sie auch als Clown in Spitälern und Pensionistenheimen tätig und widmete sich vermehrt der Malerei und Musik. Ihre Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen wurden im In- und Ausland ausgestellt. Die Arbeiten von Gerlinde Zickler wurden mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, darunter das Ehrenzeichen der Stadt Tulln. Sie hören nun Ausschnitte aus einem Interview mit Gerlinde Zickler aus dem Jahr 2015. Die Fragen stellt Gerhard Wagner. Das Material stammt aus der Reihe „Sendung ohne Barrieren“. Wir danken Ernst Spießberger für das Bereitstellen der Audiospur.
Ich stehe jetzt bei der Skulptur aus dem Film „Rosenmädchen – Seelenclown“. Weil mein Künstlername ist Rosenmädchen, aber auch Seelenclown. Dieser Film wurde zu meinem 60. Geburtstag gemacht. Und die Filmemacher wollten einfach den Menschen näherbringen, wie man 29 Monate in so einem Gipsbett liegt und da wieder rauskommt. Ich wollte diese Skulptur retten, weil die ist total aus Gips. Und so steht sie nun in meinem Garten.
Gerlinde Zickler, können Sie uns ein bisschen erzählen, wer sind Sie?
Gerlinde Zickler, verheiratet, eine Tochter, zwei Enkelkinder, wohnhaft in Tulln, geboren 1944, ich bin ein Kriegskind. Ich bin gebürtige Tirolerin in Zams bei Landeck, auch in die Schule gegangen bis zum fast 17. Lebensjahr. Von der Schule bin ich mit meinen Eltern nach Niederösterreich gezogen und habe meine erste Arbeit begonnen.
In der Kindheit gab es ja noch was Besonderes, was andere Kinder nicht erlebt haben. Was war denn da das Besondere?
Fünf oder fast sechs Jahre meiner Kindheit war ich in Sanatorien, weil ich an Knochen-Tuberkulose als kleines Kind erkrankt war und war 29 Monate im Gipsbett und konnte erst mit fünf Jahren wieder in meine Familie und musste erst wieder laufen lernen. Zur Kunst bin ich gekommen mit 37 Jahren.
Wie war denn das da als Künstlerin? Oder wie war es heute?
In 37 Jahren hatte ich nie einen Bleistift oder einen Pinsel in die Hand genommen. Eine Freundin hat davon gewusst, dass ich Künstlerin werden wollte und hat auf der Volkshochschule von einem Ölmalkurs gelesen. Die hat mich überredet und ich dachte, okay, jetzt kannst du es versuchen, wenn sie mitgeht.
Mittlerweile nach fast 35 Jahren, das ist schon die zweite Hälfte des Lebens, als Künstlerin haben Sie vor wenigen Wochen eine Ausstellung zu ihrem 70. Geburtstag gestartet. Quer durch den Kontinent, hinter uns sieht man ein Bild, das Sie gemeinsam mit einem australischen Maler gemalt haben, eben in Kooperation mit anderen Künstlern über alle fünf Kontinente hinweg. Wie war denn die Resonanz dieser Ausstellung?
Ich bin draufgekommen, also in meiner Stadt zum Beispiel, die haben das gar nicht so mitbekommen, weil sie offensichtlich gemeint haben: Na ja, die Gerlinde Zickler pinselt halt so irgendwie daher. Aber dass sie so etwas zustande bringt, mit so etwas haben sie offensichtlich überhaupt nicht gerechnet. Die Wenigen, die schon gekommen sind aus Tulln, die waren bewegt, beeindruckt und haben eigentlich fast keine Sprache dazu gefunden. Aber von auswärts, es sind auch von Wien und vom Ausland also Touristen und Menschen gekommen, ich habe auch ein Gästebuch aufgelegt, und da haben sie wirklich Großes reingeschrieben, also wirklich Bewundernswertes. Und vor allem war sehr bewegend für mich: Sie haben gemeint, diese Ausstellung hat eine Energie, eine besondere Aura, man spürt einfach, man geht mit einem tollen Gefühl hinaus. Befreit, ermunternd, also es ist ganz anders, als wenn man in eine Ausstellung geht, wo nur einer ausstellt und die Bilder zeigt. Sie können es selbst gar nicht so schildern, was diese Ausstellung mit den Menschen macht. Also es war jemand aus Deutschland, der ist drei Stunden in der Ausstellung gewesen und ist vor einem Bild gestanden und hat nicht weggehen können. Also das hat mich schon sehr berührt.
Warum wird eigentlich so oft, vor allem bei behinderten Menschen, die Leistung der Einzelnen relativiert und auf die Behindertenschiene geschoben? Hätten Sie dafür eine Antwort?
Das frage ich mich selber bei jeder Ausstellung. Ich war ja im Kunstmuseum in Charkov, also in Ukraine, ausgestellt und da war der österreichische Botschafter anwesend und hat dort erklärt, ich bin eine Größe der Behindertenkunst in Österreich. Ich habe gedacht, ich muss versinken. Das hat mich so tief im Herzen getroffen, weil ich mir gedacht habe: Was ist Behindertenkunst? Was stellen die Leute sich unter Behindertenkunst vor? Ich weiß nicht, ich kenne Art Brut, ja, aber die ist anerkannt. Aber wenn ein Mensch mit einer Behinderung, mit einer sichtlichen Behinderung, Maler sein möchte, also ein anerkannter Maler, dann wird das einfach negiert. Der schafft das nicht oder das ist nix. So ist das Empfinden. Das war ja eigentlich auch ein Beweggrund, warum ich diese zu meinem Siebziger gemacht habe, dass ich mit Künstlern, wirklichen Künstlern, zusammen ein Bild mache oder Bilder mache und dann ausstelle. Weil von außen bin ich akzeptiert, aber in der eigenen Umgebung wird man dann so, weiß ich nicht, aber vielleicht ist das Schicksal eines Malers.
Sie sind ja nicht nur Malerin, sie sind vielseitige Künstlerin, wirklich vielseitige Künstlerin: Sie malen nicht nur, sie machen bei Projekten mit, ganz verschiedenen Projekten. Modeschau, Theaterstücke, jetzt kommt eben nochmal Tanz auch dran, hab ich gehört, mit Laien noch dazu. Sie sind dabei auch sozial tätig. Was ist der Hintergrund bei einem weiteren Kunstprojekt, wenn man das so sagen kann im weitersten Sinne, in die Rolle eines Seelen-Clowns zu schlüpfen? Was ist Ihnen dabei besonders wichtig?
Das ist mir wichtig, weil durch Ausdruck, egal wie, ob du etwas schreibst, ob du etwas malst oder was singst oder was interpretierst, das suchst immer einen Nächsten, ein Gegenüber. Der wird dadurch angesprochen. Oder er fühlt etwas. Und ich denke mir, wenn ein Seelen-Clown, also ein Clown auftritt und er macht irgendwas, egal ob er da jetzt stumm dasteht oder vielleicht nur ein Wort sagt, oder nur ein Lied singt, der andere gegenüber, der fühlt was- Man kommt in Kommunikation und denkt sich was. Und das ist schon einmal sehr wichtig. Das gleiche Erlebnis habe ich gehabt beim Malen, wenn man zu zweit malt. Es ist ein Miteinander, ein Zueinanderfinden und kommunizieren. Und das finde ich, ist das Wichtigste im Leben. Und dass man nicht immer nur engstirnig mit demselben Menschen kommuniziert, sondern möglichst mit vielen. Weil Gott viele Menschen erschaffen hat. Und jeder ist ein eigener Mensch. Und man muss sich auf den anderen einlassen. Und das erfüllt einen so mit vollem Herzen. Das zu erleben, das bringt mich immer weiter, immer auf neue Ideen.
Ein anderer Aspekt: Sie haben ja viel mit behinderten Menschen zu tun. Sie arbeiten ja immer wieder mit ihnen zusammen. Glauben Sie, dass es heute für Menschen mit Behinderung leichter oder schwieriger ist als früher?
Das haben mich schon so viele gefragt. Und ich muss leider doch mit Enttäuschung sagen: Es ist noch immer sehr, sehr schwer. Ich bin eine Frau mit einer sichtbaren, großen Buckelbildung. Und wenn ich jetzt ein 16-jähriges Mädchen habe, das auch das Gleiche hat wie ich, dann frage ich: Glauben Sie, wenn die als Sekretärin kommen will in eine Firma, ob die einen Job kriegt? Ist das heute anders? Ich weiß es nicht. Ich trau mich wirklich nicht, das so mit vollem Herzen so sagen, ja, wir nehmen sie. Also ob das passiert, ich kann es nicht sagen.
Zum Abschluss nochmal zurück zu Ihnen selber: Was hat Sie in Ihrem diesjährigen Leben am meisten geprägt? Und gibt es Dinge, die Sie heute vielleicht anders machen würden?
Geprägt? Am meisten geprägt haben mich die Menschen. Also für mich sind die Menschen das Wichtigste. Ich könnte nicht allein sein, in meinem ganzen Leben war ich noch nie allein. Also ich sage jetzt nicht ein paar Stunden, aber sagen wir jetzt einen Monat allein. Also da würde ich wie eine Pflanze verwelken, die nicht gegossen wird. Also für mich sind die Menschen das Wichtigste.
Und wenn Sie jetzt sozusagen von dem Standpunkt, wo Sie jetzt stehen, zurückschauen, sind Sie trotzdem, obwohl Sie relativ spät erst begonnen haben, obwohl Sie es schon früher wollten, aber sind Sie mit dem, was Sie künstlerisch in den letzten Jahren bewirkt haben, soweit man das denn überhaupt sagen kann, zufrieden?
Nein, zufrieden kann man nicht sein.
Als Künstler eh nie, oder?
Nein, das ist Irrtum. Es ist immer ein Weg bis zum letzten Atemzug.
Aber anders gefragt: Könnten Sie sagen, so wie es jetzt gelaufen ist, ist es eigentlich gut. Dass man das so sagen kann?
Ja, ich bin zufrieden, also zufrieden bin ich eigentlich immer, ich war nie verzweifelt. Also das kenne ich überhaupt nicht. Ich bin immer in meiner Seele glücklich, ich kenne keine Verzweiflung. Vielleicht ein paar Stunden, aber wirklich verzweifelt, vor allem auch, was Kunst betrifft, es geht immer einen Vorwärts und ich mache auch nicht immer das Gleiche, weil das ist auch das Nächste. Da kommt immer wieder was Neues, was herausfordernd ist und da bleibt man dran. Mich macht sowas glücklich.
Das war eine Sendung zu Ehren von Gerlinde Zickler. Sie hörten Ausschnitte aus einer Freak-Radio-Sendung aus dem Jahr 2010, „Phönix aus dem Gips“, und aus der Reihe „Sendung ohne Barrieren“. Moderation Ronja Nowotny, Bearbeitung Christoph Dirnbacher. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit ist Gerlinde Zickler auch Obfrau des Vereins „Miteinander leben“. Der Verein setzt sich seit 1990 für die Förderung des Zusammenlebens von behinderten und nicht behinderten Menschen ein. Mehr über die Aktivitäten von „Miteinander leben“ hören Sie 19. November auf Freak-Radio Ö1 Campus. Das war eine Produktion von FreakCasters von aus dem Jahr 2024. Schnitt Sandra Knopp, Redaktion Christoph Dirnbacher. Mehr zu uns und unseren Sendungen findet ihr auf freakcasters.simplecast.com. Dort stehen mehr als 80 Episoden zum Nachhören bereit. Darunter etwa ein Interview mit Behindertenanwältin Christine Steger. Sie spricht über Wege, alltägliche Diskriminierung zu bekämpfen. FreakCasters ist Teil des Ö1-Inklusionspodcasts „Inklusion gehört gelebt“. Jeden Mittwoch erscheint eine neue Episode. Jede Folge steht samt Transkription sechs Monate lang zum Nachhören bereit. Auf Wiederhören und bis zum nächsten Mal, sagt Ronja Nowotny.