Freak-Casters: Sideshows und die Menschen dahinter

Herzlich willkommen bei FreakCasters, sagt Sandra Knopp. Die bärtige Lady, kleinwüchsige Menschen, die kolossal-dicke Dame, der Mann ohne Arme und Beine. Früher stellten sich Menschen, die anders waren, zur Schau, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen – nicht alle freiwillig. Auch im Wiener Prater gab es solche Freakshows. Was früher üblich war, muss heute sehr kritisch beleuchtet werden. Mein Kollege Udo Seelhofer hat Robert Kaldy-Karo, den Direktor des Wiener Circus- und Clown-Museums, getroffen. Er begibt sich mit uns auf eine Zeitreise zu den Schaustellern und Zirkusunternehmern vergangener Tage und erzählt von den Publikumsmagneten von damals.

Udo Seelhofer:
Der zweite Wiener Gemeindebezirk, in dem das Museum ist, hat auch eine Zirkusgeschichte. Und da gibt es auch Zirkusbauten von verschiedenen Veranstaltern. Wer war denn früher hier?

Robert Kaldy-Karo:
Die Zirkusbauten waren der Circus Renz in der heutigen Zirkusgasse. Das war ein Festbau mit circa 1400 Sitzplätzen, außen wie ein normales Haus, innen als Zirkus mit Manege und allem. Dann hat es gegeben das Festgebäude Zirkus Busch. Das ist circa dort, wo man heute bei der Venediger Au zur U-Bahn runtergeht. Dann hat es vis-a-vis gegeben den Zirkus Zentral als Festbau und ansonsten temporär sind teilweise Holzbauten gewesen, wie Zirkus Carre. Der war auf der Ausstellungstraße, der war ca. 15 Jahre, der hat 4.000 Sitzplätze gehab. Auf der Ausstellungstraße hat es Varietés, Cabarets gegeben. Also um hier im 2. Bezirk, es war der Unterhaltungsbezirk par excellence, jeden Abend halbwegs etwas zu verdienen, mussten 10.000 bis 12.000 Einsatzkarten Minimum verkauft werden.

Udo Seelhofer:
Es fasziniert mich ja total. Bei Zirkus denkt man sofort an das Zirkuszelt, das dann abgebaut wird und dann zieht man weiter. Es hat wirklich fixe Bauten gegeben?

Robert Kaldy-Karo:
Es hat keine Zelte gegeben früher. Das Zirkuszelt ist eigentlich erst nach dem amerikanischen Bürgerkrieg entstanden. Weil im amerikanischen Bürgerkrieg hat man begonnen, große Zelte noch nicht rund, aber länglich zu machen für die Kanonen und für die Tiere, nicht für die Menschen. Aus der Technik konnte man dann Zirkuszelte erst bauen. Früher hat der Zirkus im Freien gespielt. Zirkus war nur möglich, solange Schönwetter war. Und deswegen gibt es auch die Zirkuswiese in Prater. Dort war der erste Zirkusfestbau der Welt, der Circus Gymnasticus, der um 1800 in etwa erbaut wurde, war ein Holzbau und hat auch gehabt um die 3500 Sitzplätze. Und bevor der war, waren alle diese Zirkusse im Freien auf der Zirkuswiese oder auf der Feuerwerkswiese, das war links von der Ausstellungsstraße heute.

Udo Seelhofer:
Was es im Zirkus früher auch immer gegeben hat, waren die sogenannten Sideshows oder Freakshows hat man es auch genannt. Wie würden sie denn den Begriff Freak definieren? Was ist für Sie ein Freak?

Robert Kaldy-Karo:
Freak ist eigentlich, wenn man es übersetzt, Laune der Natur. Es gibt verschiedene Sachen. Ich finde, Freak wird heute eigentlich zu negativ verwendet, was eigentlich gar nicht der Ausdruck ist dafür. Sideshows war eigentlich der Begriff. Freakshow ist eigentlich erst in den 20er-Jahren durch den Tod Brownings Film „Freaks“ entstanden. Vorher hat niemand den Ausdruck gekannt. Es war immer nur Sideshow und jeder hat seine eigene Bezeichnung. Das war die Haarfrau, die tätowierte Frau oder der Mann mit den drei Beinen. Jeder hat einen eigenen Namen gehabt, er ist nicht mit einem Überbegriff belegt worden. Es hat so ausgeschaut, diese Leute waren ja auch im Wiener Prater. Da wurde eine Hütte aufgebaut, wo man drinnen war. Es hat ein kleines Podium gegeben und dort ist der gesessen, der sich zur Schau gestellt hat. Und er ist in interaktiven Kontakt zum Publikum getreten, indem er gesungen hat, irgendetwas gemacht hat oder mit den Leuten geplaudert hat oder seine Lebensgeschichte erzählt hat.

Udo Seelhofer:
Warum haben sich diese Menschen dazu entschlossen, sich auf diese Art zur Schau zu stellen?

Robert Kaldy-Karo:
Sie müssen sich einmal vorstellen, es war eine Zeit, in der man sehr arm war. Große Bevölkerungsschichten, 10% des ganzen Vermögens waren praktisch nur in der Hand der Bevölkerung, der Rest war Adelige, Großindustrielle. Und wenn jetzt jemand eine Behinderung gehabt hat oder etwas gehabt hat, was interessant war für die Menschen zu sehen, hat er damit Geld verdienen können und hat seine Familie erhalten können. Und man darf das jetzt auch gar nicht als negativ in der Vergangenheit sehen. Damals musste man wohin gehen, um den zu sehen, heute dreht man im Fernsehen auf und sieht eigentlich viel mehr solcher Sachen. Und es war genauso wie damals, die Menschen wollen eine gewisse Schau-Lust, ein bisschen gruseln erleben und damals war es eben so, dass diese Leute wirklich ihre Familie erhalten konnten und sich selbst auch erhalten konnten. Und in diesem Makrokosmos, wo sie aufgetreten sind, ob das jetzt Zirkus, Sideshow, Varieté war, waren sie auch, je nachdem wie sie sich präsentiert haben, haben sie auch einen Namen gehabt, einen Ruf gehabt und waren jemand, sie waren eine Persönlichkeit. Man hat sie nicht degradiert auf ihre Behinderung, sondern sie waren jemand.

Udo Seelhofer:
Also das Klischee, was man in Hollywood doch immer wieder sieht, ist, dass sie von einem großen Impressario gezwungen werden aufzutreten. Das stimmt nicht?

Robert Kaldy-Karo:
Nicht unbedingt, selbstverständlich hat es das auch gegeben. Nur ein Beispiel: Die siamesischen Zwillinge, die Slezak-Zwillinge, die wurden seinerzeit mit ihrem Vater zusammen von einem Impressario gekauft und wieder weiterverkauft, aber zusammen mit der Familie. Das war natürlich auch eine Art des Menschenhandels, aber diese Familie hat sehr gut gelebt davon. Negative Sachen gibt es dann natürlich wieder mit der Julia Pastrana. Das war eine Bartfrau, die wurde ihren Eltern abgekauft in Mexiko von einem Amerikaner und der ist mit ihr gereist. Damit es keine Probleme gibt, hat er sie geheiratet. Und in Moskau, also wir reden jetzt in der Zeit so 1850, 1860 herum, ist sie schwanger worden, gestorben. Und er hat eine gute Idee gehabt und hat sie ausstopfen lassen mit Kind und ist mit dem ausgestopften Leichnam dann durch die Welt gezogen. Der Leichnam wurde dann nach Wien verkauft, ins Panoptikum im Prater zu Präuscher. Für ein wahnsinniges Geld, also nach heutigem Begriff wahrscheinlich um die 500.000-800.000 Euro wäre das gewesen, was der bezahlt hat. Er hat sie hier wieder ausgestellt und das ist immer weitergegangen. Mit Schaustellern ist sie nach Schweden gekommen, da war der Leichnam dann schon sehr desolat. Und wir haben es dann geschafft mit einer Gruppe von Frauenvereinen vor fünf Jahren, dass sie endlich nach Mexiko überstellt wurde, in ihren Heimatort und dort begraben wurde. Also sie war, kann man sagen, über 100, 120 Jahre als Leichnam unterwegs, wo Leute Geld verdient haben mit ihr. Das ist dann natürlich wieder auch sehr, sehr zum Überlegen und zum Nachdenken.

Udo Seelhofer:
Sie haben ja für diese Menschen noch einen eigenen Raum in Ihrem Museum gestaltet. Wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen?

Robert Kaldy-Karo:
Wie gesagt, Felix Atanos, ein berühmter Jongleur, hat seine Sammlung angelegt mit Bildern, Erinnerungsstücke an diese Leute. Und dadurch habe ich sie als junger Museumsmitarbeiter schon relativ bald gesehen und hab mir wir auch Gedanken darüber gemacht. Und beispielsweise André Heller bei seiner Flic-Flac-Show hat diese Sammlung zweimal präsentiert und ausgestellt. Eher mit Gruselfaktor, würde ich sagen, damals. Aber mir hat es irgendwie gefallen, vor allem wie ich mich dann mit den Hintergründen der Menschen, den Schicksalen beschäftigt habe, dass die eigentlich vor nichts gestanden sind und dann durch sich selbst etwas geschaffen haben. Eben sich selbst ausgestellt, sie haben sich selbst präsentiert. Und da ist für mich das beste Beispiel die dicke Mitzi, was wir haben natürlich. Die Frau hat einen irrsinnig guten Schmäh gehabt, wie man in Wien sagt. Zu der sind die Leute gegangen, weil es lustig war. Und die war in jungen Jahren so stark, dass sie vier Männer so auf ihre Arme hängen konnte, links und rechts je zwei Männer. Und die konnte sie stemmen. Und sie war ja nicht dick, weil sie zu viel gegessen hat, sondern sie war ja krank. Sie war schwer zuckerkrank und hat am Schluss 265 Kilo gewogen. Aber sie war immer lustig, fröhlich. Sie war verheiratet, sie hatte zwei Kinder. Eine Tochter lebt sogar noch in Neuseeland. Und sie hat da ein Lokal gehabt in der Nähe des Praters. Also erfülltes Leben eigentlich, wenn man jetzt nimmt: Krank und nicht dem Schönheitsideal entsprechend und hat trotzdem was aus ihrem Leben machen können.

Udo Seelhofer:
Und Sie haben ja auch da ein sehr prägnantes Ausstellungsstück von ihr. Was ist denn das genau?

Robert Kaldy-Karo:
Das ist ihre Unterhose. Und zwar, man muss dazusagen, was ja auch sehr lustig ist: Ihr Gatte, der Vickerl, hat, wenn er viel gehabt hat, 72 Kilo gehabt. Der war ganz dünn und klein. Und der ist vor der Ausstellungshütte gestanden mit dieser riesengroßen Unterhose von ihr. Und den Originaltext hat mir ihre Tochter gegeben, also er ist dort gestanden hat gesagt: „Leutln, schauts her! Das ist die Untergatte von meiner Oiden! Kommts rein und schauts euch meine Oida an, 265 Kilo wiegt sie!“ Das war sein Ausrufer-Schmäh, dass die Leute reingekommen sind.

Udo Seelhofer:
Er spielt ja schon auch ein bisschen damit, dass sich die Menschen das dann wahrscheinlich schwer haben vorstellen können, so mit der Familiengründung et cetera, oder?

Robert Kaldy-Karo:
Das war natürlich auch so, die Miezi, die konnte natürlich was erzählen von ihren Töchtern. Die hat sehr viel Gesprächsstoff gehabt und sie war natürlich wieder ein Ausnahmefall natürlich auch von diesen ganzen dicken Damen. Aber die meisten haben natürlich schon Probleme gehabt. Sie hat den Vorteil gehabt, sie hat immer über Jahre eigene Hütten da gehabt, war sehr viel in Linz-Urfahr am Markt, war auf Tourneen. Aber sie konnte sich das auch anders leisten, sie hat auch ein Auto gehabt mit ihrem Mann zusammen, weil sie gut verdient haben. Und wenn man jetzt so schaut wie der Kobelkoff, der auch eigentlich körperbehindert war und sich zur Schau gestellt hat, auch der hat auch sehr gut verdient und hat das Geld gut vermehrt und konnte seinen sechs Kindern, die alle ganz normal geboren wurden, jedem ein Ringelspiel im Prater vermachen, also wo sie wirklich Existenz hatten dann.

Udo Seelhofer:
Wer war denn der Herr Kobelkoff, wer war denn das genau?

Robert Kaldy-Karo:
Herr Kobelkoff war ein Russe, der von Schaaf, das war ein Schausteller in Wien, die Schaafs gibt es heute noch, das ist eine Schausteller-Dynastie, nach Österreich, also in die kuk-Welt geholt wurde. Er ist geboren ohne Arme und Füße und hatte nur einen kleinen Stumpf. Und der wurde ausgestellt von ihm und der hat sich dann selbstständig gemacht, hat dann eine Tochter eines Praterunternehmers geheiratet und hat seine eigene Dynastie gegründet. Und heute gibt es in Prater zwei kleine Mädchen, das sind die letzten Nachkommen von diesem Kobelkoff, die sind in der dritten oder vierten Generation bereits.

Udo Seelhofer:
Und was war das Besondere am Herrn Kobelkoff? Was hat er gemacht? Sie haben vorhin gesagt, er war der berühmte Rumpf-Mensch des Wiener Praters.

Robert Kaldy-Karo:
Man hat sich den auch angeschaut. Und vor allem, der konnte, trotz seiner Behinderung, er konnte Bilder malen, er hat sehr schöne Aquarelle gemalt, wir haben auch ein Original hinten, die man kaufen konnte. Er konnte mit einem Luftdruckgewehr auf eine Zielscheibe schießen, die Zielscheibe wurde dann verkauft. Er hat mit dem Mund wunderschöne Unterschriften gemalt, die wurden verkauft. Er hat seine Memoiren verkauft, er ist einer der Einzigen gewesen, welcher schöne Memoiren in einem dicken Buch gehabt hat. Er hat Postkarten von sich und seiner Familie verkauft, also er war sehr geschäftstüchtig. Bei den Vorführungen hat er gezeigt … Man muss dazu sagen, er hat sehr gerne ein Glaserl Wein getrunken. Und das sieht man: Es gibt einen Zweiminuten-Film von ihm, von Pathé in Paris, wie er mit dem Armstumpf eine sich Flasche einschenkt. Also mit dem Mund nimmt er den Stoppel raus, schenkt sich ein, dann trinkt er, und er kann sich auch eine Zigarre anzünden. Also die Zigarren hat er hier vorn gehabt in sein Kostüm und mit Streichholz und allem zündet er sich eine Zigarre an. Und das hat er eben vorgeführt, und das war natürlich für die Leute eine wahnsinnige Sache, das zu sehen.

Udo Seelhofer:
Nur dass man sich auch vorstellen kann, warum das etwas Besonderes ist, wenn der Mann sich eine Zigarre anzündet: Wann immer ich mir Zigaretten angezündet hab, die ich geraucht habe früher, habe ich beide Hände dafür gebraucht. Das würde nicht gehen, ich würde das halbe Haus anzünden wahrscheinlich.

Robert Kaldy-Karo:
Naja, im Film „Freaks“ sieht man das auch, wie ein Rumpfmensch sich das anzündet: Er hält fest, macht mit dem Mund die Streichholzschachtel auf, holt das Streichholz raus, zündet es an, legt die Streichholzschachtel hin, dann nimmt er die Zigarre und zündet sie an. Aber wie Sie sagen, wenn wir das machen, würden wir wahrscheinlich alles abfackeln. Aber er hat es geschafft.

Udo Seelhofer:
Wenn Sie den Film schon ansprechen, „Freaks“: Das ist interessant, das ist genau der Film, mit dem mein Interesse an dem Thema begonnen hat, als ich ihn mal vor ewigen Zeiten um vier Uhr früh im ORF gesehen habe in einer Wiederholung. Und noch mehr fasziniert hat mich dann, als ich gelesen habe, dass einer der Freaks eigentlich aus Österreich-Ungarn ist: Josephine Joseph. Was können sie denn zu ihr erzählen?

Robert Kaldy-Karo:
Eigentlich gar nichts, die sind irgendwann einmal nach Amerika gegangen und über diese Leute ist eigentlich nichts vorhanden. Es ist so, der Regisseur Tod Browning muss man dazu sagen, war sehr zirkusaffin. Immer wenn er gerade keinen Film gedreht hat, ist er in einem Zirkus gereist. Und er hat wirklich irrsinnig abstrakte Filme über den Zirkus gemacht, wie „The Unknown Man“ von einem Messerwerfer, der mit den Füßen wirft, und lauter solche Sachen. Und er war ein sehr guter Zauberer und hat auch Zauberfilme gemacht, aber auch immer wieder mit irrsinnigen Zauberern natürlich. Und „Freaks“ war eigentlich ein Film, was mich so fasziniert dran: Man fängt es erst an, man sieht diese verunstalteten Menschen und ist irgendwie skeptisch. Und je länger der Film dauert, desto netter werden diese Leute eigentlich. Es kippt drinnen. Am Schluss liebt man sie eigentlich, man kriegt irrsinnig positive Gefühle, und alle normalen Menschen in den Filmen, die ja als böse dargestellt sind, sind plötzlich wirklich abgrundtief böse, und es hat sich dieses Weltbild gekippt drinnen. Das ist eine ganz tolle Sache, was dieser Tod Browning damals eben geschaffen hat mit dem Film. Er war ja übrigens bis in die 40er-Jahre verboten, in Amerika durfte er nicht gezeigt werden. Also ich finde, es ist der Film, den man auch jemandem zeigen sollte, der nie mit Körperbehinderten oder mit so etwas zu tun hat, dass er jetzt wirklich sieht diese positive Veränderung, was man da merkt an sich.

Udo Seelhofer:
Ja und gleichzeitig, wie Sie da schon gesagt haben, was mir auch gefallen hat, war, dass sich eben das Bild so gedreht hat. Dass dann die Bösen, die waren, die innen drinnen hässlich waren, kann man sagen. Genau bei P.T. Barnum, bleiben wir doch in Hollywood und machen einen Sprung ein paar Jahrzehnte nach vorne: Es gibt ja den Film „The Greatest Showman“ mit Hugh Jackman in der Hauptrolle. Wie hat Ihnen der gefallen?

Robert Kaldy-Karo:
Fantastisch! Er hat überhaupt nichts mit dem Leben von P.T. Barnum zu tun, es sind nur Teile davon, aber Jackman ist natürlich ein Wahnsinn. Der Anfang natürlich und dann der Filmschnitt, also fantastischer Film, also wirklich ganz, ganz großartig.

Udo Seelhofer:
Was mir bei meinen Recherchen jetzt wieder aufgefallen ist: Es immer die wildesten Geschichten noch erfunden. Hier zum Beispiel immer so Titel, die sie gekriegt haben. Zum Beispiel die dicke Mitzi, „die Königin der Kolossaldamen“, oder einen hat es gegeben, der hat „The Wild Man of Borneo“ geheißen oder so. Warum hat man da diese Geschichten noch dazuerfunden, um das Ganze noch sensationeller zu machen?

Robert Kaldy-Karo:
Um das Ganze interessanter zu machen natürlich. Wir müssen ja rechnen, das war eine Zeit, wo man sich die Information maximal über Zeitungen geholt hat. Aber auch nur gewisse Bevölkerungsschichten, nicht alle. Die meisten Sachen kannte man dann eigentlich eher nur vor Ort oder durch Plakate, wo man aufmerksam gemacht wurde. Der natürlich, der die beste Performance im Vorhinein hatte, mit dem, was er versprochen hat, hat natürlich das Geschäft gemacht. Deswegen war das eben auch die Königin der Kolossaldamen. Es musste alles besser, toller, stärker sein, schneller sein. So wie man es ja heute auch kennt, meiner Meinung nach hat sich nichts verändert. Es ist nur ein bisschen schneller geworden, ein bisschen anders die Werbung, aber es ist die gleiche Angeberei, die gleiche Großsprecherei in der Werbung wie früher, so auch heute.

Udo Seelhofer:
Wann war denn so die große Zeit der Freakshows? Wann waren die besonders beliebt bei den Menschen? In welcher Epoche?

Robert Kaldy-Karo:
Ich würde sagen, bis zum Zweiten Weltkrieg war das noch sehr stark verbreitet, in Amerika auch noch länger, bis in die 50er-Jahre. Aber gegeben hat es das immer schon. Also bereits im 15., 16. Jahrhundert hat man in Wien solche Menschen ausgestellt. Und zwar hat man da meistens irgendwo in der Stadt ein Zimmer gemietet, eine Wohnung gemietet, wo man dann Plakate aufgehängt hat, dass man zu dem oder dem Zeitpunkt jetzt die kleinste Frau der Welt oder den Riesen sehen konnte. Und das war natürlich damals schon ein bisschen negativ. Die haben die Leute nicht auf die Straße lassen, damit sie die Leute nicht gratis sehen. Die durften nur in der Nacht fortgehen oder in die Kirche, total verschleiert oder dergleichen, damit die Leute jetzt nicht gratis sie sehen und nicht mehr zum Anschauen kommen. Aber gegeben hat es das eigentlich immer schon, in Wien 16., 17. bis 18. Jahrhundert. Innere Stadt am Kohlmarkt hat es teilweise Freakshows gegeben, Abnormalitäten-Shows, Wachsfiguren-Museen, Kinos, was mit allem vermischt war. Also es war immer schon da und die Zeit war sicher die große Zeit im Wiener Prater, würde ich sagen, von 1860 bis 1920, 1930. Zur Nazi-Zeit hat sich das dann aufgehört natürlich.

Udo Seelhofer:
Warum sieht man diese Shows heute dann eigentlich nicht mehr so?

Robert Kaldy-Karo:
Es hat sich alles geändert. So wie man nicht mehr in Zirkus mehr unbedingt geht, geht man sich jetzt auch nicht so was anschauen. Warum? Also heute hat man ganz andere Vorbehalte jetzt bei so was, dass man jetzt da jemanden begafft. Und wenn wir uns ehrlich sind, alles was man jetzt heute sieht bei irgendwelchen Talentenshows oder bei irgendwelchen anderen Shows, ist nicht viel anders als früher, wo man irgendwo im Prater gewesen ist und sich in einer Hütte was angeschaut hat, wo jetzt jemand aufgetreten ist. Es hat sich nicht verändert, meiner Meinung nach, nur verlagert.

Udo Seelhofer:
Wenn Sie gerade den Prater wieder ansprechen: Das Prater-Panoptikum, was war das genau?

Robert Kaldy-Karo:
Das Panoptikum im Prater war das Präuschers Panoptikum, so hat es geheißen. Präuscher war ein Deutscher, war ein Löwenbändiger, der nach Wien gekommen ist und da ein Wachsfigurenmuseum aufgemacht hat. In dem Wachsfigurenmuseum gab es natürlich auch zu sehen die üblichen Wachsfiguren von Kaisern, Königen, Mördern. Daneben gab es noch das Pathologische Institut, wo man menschliche Präparate, also eben Pestkranke und dergleichen sehen konnte. Strengstes Jugendverbot. Und es traten auch immer wieder Abnormitäten, wie man in Wien damals gesagt hat, auf. So wie in einer Sideshow. Es traten Künstler auf, alles Mögliche. In Amerika hat man Dime Museum gesagt, weil man für zehn Cent zehn verschiedene Attraktionen sehen konnte. Und so war das in Wien auch circa.

Udo Seelhofer:
Haben sich wahrscheinlich auch großer Beliebtheit erfreut die Shows, oder?

Robert Kaldy-Karo:
Die waren sehr gut besucht, in Amerika genauso wie da. Man muss es natürlich auch so sehen: Der Prater war natürlich ein Treffpunkt der kleinen Servierkraft, des Dienstmädchens, des Soldaten. Und wenn der Soldat ein bissl Geld gehabt hat, dann ist er mit ihr jetzt da reingegangen. Sie hat sich gegruselt, hat natürlich einen guten Vorwand gehabt, dass er sich an ihn ein bisschen hindrücken kann. Man konnte sich natürlich auch eher näherkommen natürlich.

Udo Seelhofer:
Also so wie man es heute vielleicht in der Hoffnung macht, wenn man beim ersten Rendezvous vielleicht zu einem Gruselfilm geht ins Kino?

So auf die Art. Ist eine der Sachen, was ich vermute und wahrscheinlich auch stimmen wird.

Udo Seelhofer:
Könnte man sich ja auch bei Tod Browning dann gruseln, der hat ja unter anderem auch Dracula mit Bela Lugosi gedreht, was ja auch ein großer Klassiker des Kinos ist.

Robert Kaldy-Karo:
Wenn man jetzt einmal wirklich liest, was sie da abgespielt hat bei den ersten Vorführungen, wo Leute ohnmächtig worden sind. Auf der anderen Seite, wo ich mich sehr mit Filmen beschäftigt habe, ich hab auch sehr viele Freunde in Hollywood, von denen ich immer Informationen kriege. Man hat es natürlich sehr aufgebaut, indem man immer einen Krankenwagen dort hingestellt hat, ein Arzt war vor Ort. Also man hat vorher die Erwartungshaltungen des Publikums noch einmal hochgeschraubt natürlich. Und sicher, damals war das natürlich schon sehr gruselig, wenn du sowas noch nie gesehen hast. Wenn ich mir heute einen alten Dracula-Film anschaue und du schaust dir heute an „Der kleine Vampir“ für Kinder.

Udo Seelhofer:
Der kleine Vampir ist vielleicht blutrünstiger.

Robert Kaldy-Karo:
Sehr blutrünstiger als damals.

Udo Seelhofer:
Warum ist es heute eigentlich so, dass man heute weniger in den Zirkus geht? Sie haben vorher schon gesagt, das hat sich ein bisschen verlagert alles. Hat das auch was damit zu tun?

Robert Kaldy-Karo:
Dass man weniger in den Zirkus geht, ist eher eine Sache Österreich, Deutschland. In Frankreich, Italien, Spanien ist der Zirkus immer noch sehr, sehr en vogue. Wo man sehr hingeht und die riesige Unternehmen haben, also die wirklich Multikonzerne sind eigentlich. Bei uns war das Problem: Diese ganzen kleinen Zirkusse, die haben teilweise nicht so richtig den Anschluss gefunden. Und es ist schwer zu sagen: Der Wiener geht auch nicht so gern fort. Er geht zu einem Ball, er geht ins Kino, er geht ins Theater, aber ansonsten ist er eher ein bissl träge, dass er wohin geht. Sieht man daran: Wir haben in Wien kein richtiges, echtes Varieté wie es früher war, mit Artisten und dergleichen, was permanent wo spielt.

Udo Seelhofer:
Was ja eigentlich schade ist. Da gibt es ja eigentlich eine ziemlich große Tradition auch in Wien, oder?

Robert Kaldy-Karo:
Totale Tradition natürlich. Nur eben durch Fernsehen und jetzt die ganzen Medien, die elektronischen Medien, hat sich das alles verschoben. Und wir dürfen uns auch nicht vergessen: Ich seh heute die besten Zirkus-Sachen. Von Monte Carlo, wenn ich will, setze ich mich da hin, schaue mir das vor meinen Flatscreen an, kann ein Bier trinken, kann auch Popcorn dazu essen. Kostet mir nichts, ich brauche nirgendwo hingehen und das ist natürlich auch der Grund. Weil Zirkus natürlich auch gar nicht so eine billige Sache ist, wenn man sich dann anschaut, wenn eine Familie mit zwei Kindern hingeht, vielleicht das Kind trinkt noch was, Popcorn, Eintritt. Da ist gleich eine ganze schöne Stange Geld weg.

Udo Seelhofer:
Was ja auch einer der wichtigsten Teile im Zirkus ist und wo man da hinten auch die Köpfe und die Masken sieht, sind die Clowns.

Robert Kaldy-Karo:
Das Wichtigste ist, dass ein Clown wirklich gut ist, dass er eine eigene Maske findet, dass er eine eigene Performance findet. Er muss unverwechselbar werden. Und da war meiner Meinung nach Grock am stärksten.

Udo Seelhofer:
Bei mir war es immer der Enrico bei Am-Dam-Des, den habe ich geliebt als Kind.

Robert Kaldy-Karo:
Ja, das ist klar. Vor allem war er ein lieber Clown.

Udo Seelhofer:
Verstehen Sie auch, dass manche Menschen sich ein bisschen vor Clowns fürchten?

Robert Kaldy-Karo:
Vor unseren Clowns braucht man sich nicht fürchten. Bei den amerikanischen Clowns, den normalen Clowns, mit diesen grauenhaft vollweiß geschminkten Gesichtern und diesen wirklich extrem bunten Kleidungssachen, kann ich mir es vorstellen. Und vor allem Barnum & Bailey, der größte Zirkus der Welt, hat er vor drei Jahren geschlossen. Er fährt ja nicht mehr in Amerika und der hat nur in riesigen Hallen am Schluss gespielt mit drei Manegen gleichzeitig. Und rundherum war die Reitbahn hat, hat man zu dem gesagt, da sind auf einem Haufen 30 Clowns gegangen. Und die sind gegangen und sind bei den Leuten gestanden, so von einer Länge von 15 Meter, jeder hat einen Gag gemacht. Dann haben sie gelacht und sind weitergegangen. Und die waren alle weiß geschminkt. Also da kann ich mir schon vorstellen, dass sich wer gruselt. Weil das sieht schon sehr gespenstisch aus.

Udo Seelhofer:
Erinnert dann auch so ein bisschen an den Gevatter, wenn man so weißgeschminkt daherkommt.

Robert Kaldy-Karo:
Von dem kommt ja eigentlich, man kann eigentlich sagen, dass Shakespeare ein bisschen diese Clowns produziert hat. Es gibt heute noch manche Clowns, die diese drei roten Haarbüscheln haben und auch weiß geschminkt sind. Es ist eine Art Weißclown und zwar: Shakespeare hat zwischendurch bei seinen Stücken immer ein bisschen Pause gebraucht, dass sie den Text nachlesen werden, dass sie ein Bier trinken können. Und da haben sie Totengeister, Gespenster auf die Bühne geschickt. Die waren weiß gekleidet, weiß geschminkt und die Haare in drei rote Büscheln, was das Fegefeuer symbolisiert hat. Und die sind tölpelhaft, wie wir damals gesagt hat, übereinander gestolpert, haben sich was am Kopf gehaut, und die Leute haben gelacht. Und aus dem sind dann eigentlich die Clowns entstanden. Und Grimaldi, das war 1780 der erste große echte Clown in England, der ist auch noch ausgetreten mit dieser Bemalung und auch mit diesen roten Haarbüscheln.

Udo Seelhofer:
Wie war das eigentlich: Ich habe auch mal irgendwo gelesen, dass Clowns zumindest am Anfang vorsorglich die Pausenunterhaltung waren, wenn irgendwas im Zirkus umgebaut worden ist. Stimmt das?

Robert Kaldy-Karo:
Reprisen hat das geheißen, ein Reprisen-Clown. Der war nur dazu da, dass er jetzt ein, zwei Effekte gemacht und das Publikum unterhalten hat, wenn da ein Umbau war. Das waren die kleineren Clowns, die weniger bekannten. Und dann hat es natürlich die berühmten gegeben, die in der Hauptmanage, in der großen Manage dann ihren Auftritt gehabt haben. Das war immer die Gruppe, das war der Weiß-Clown, der weiß Geschminkte, der symbolisiert den Gescheiten im Staat, und die zwei dummen Auguste mit den zu weiten, bunten, zerrissenen Kostümen, die symbolisieren das Volk. Und das war dann eine Dreiergruppe, die dann das Hauptprogramm gemacht hat.

Udo Seelhofer:
Man sagt ja auch immer, dass das Zirkusvolk ein eigenes Volk ist. Was macht denn das Zirkusvolk aus, also die Menschen, die für den Zirkus arbeiten und die Schausteller und Artisten, die da auftreten?

Robert Kaldy-Karo:
Das ist genau das Gleiche wie eine Gruppe von Computerfreaks oder eine Gruppe von Handwerkern. Es ist halt, dass sie unterwegs sind, dass sie in der Manege am Abend auftreten, dass sie mit Wohnwagen teilweise fahren, was heute auch nicht mehr stimmt unbedingt. Aber im Grunde genommen ist das eigentlich alles gleich. Jeder hat irgendwo einen Traum für sich, was er sich erfüllen will, den er machen möchte. Und so machen das auch die Zirkusleute. Es ist für viele ein Traumberuf, wo man was verdienen kann, das sie sich erfüllt haben. Und es ist für viele eine Traditionssache, weil sie bereits 100, 150 Jahre mit ihren Familien Zirkus reisen.

Udo Seelhofer:
Kommen wir mal zurück zum Museum, also zum Clown- und Circusmuseum. Auf welche Exponate sind Sie denn besonders stolz?

Robert Kaldy-Karo:
Schwer zu sagen, es ist eigentlich alles schön, was wir hier haben. Es ist ja nur ein Teil unserer Sammlung und meiner Sammlung, was ich noch habe. Ich hab ja eine der größten Sammlung zur Geschichte der Zauberkunst. Ich kann mich schwer entscheiden, also mir gefällt alles sehr gut.

Udo Seelhofer:
Sie haben einmal erwähnt, Sie haben zum Beispiel auch ein Hütchenspiel aus dem 17. Jahrhundert.

Robert Kaldy-Karo:
Ich habe beispielsweise nicht Hütchenspiel, sondern von Josef Fröhlich, das war dieser berühmte letzte Hofnarrentaschenspieler am Hof August des Starken. Von dem besitze ich eines seiner Becherspiele, was aber zur Unterhaltung gezeigt wurde. Also nicht so wie auf der Mariahilfer Straße, wo jetzt welche mit einem Zündholzschachterl „Wo ist die Kugel?“ spielen, sondern der die Leute damit unterhalten hat. Das ist natürlich eine ganz spezielle Sache. Momentan liebe ich das natürlich ganz, ganz stark, wenn mir das wieder einfällt. Aber auf der anderen Seite, wenn ich jetzt gehe, sehe ich vielleicht wieder etwas anderes, wo ich denke: Ups, das ist es eigentlich jetzt. Wie gesagt, mir hängt mein Herz an allem, und die Sammlung ist so groß, ich kann mir eigentlich gar nichts rauspicken jetzt.

Udo Seelhofer:
Also eigentlich das Optimum für einen Museumschef, oder?

Robert Kaldy-Karo:
Ja, ich habe ja noch andere Sammlungen privat auch. Also ich bin ein Sammler und dadurch gefällt mir eigentlich alles. Ich muss nur immer aufpassen, dass ich nicht mit etwas Neuem zum Sammeln beginne.

Udo Seelhofer:
Das kenne ich von wo. Sie sind ja nicht nur Museumschef, sondern auch Zauberkünstler. Was macht einen guten Zaubertrick aus?

Robert Kaldy-Karo:
Dass er die Leute unterhält und verblüfft. Ganz einfach gesagt.

Udo Seelhofer:
Und was macht einen guten Zauberer aus?

Robert Kaldy-Karo:
Dass er die Leute verblüfft, gut unterhält, charmant ist. Es gibt so viele verschiedene Arten von uns, wie sie arbeiten. Ob das jetzt der David Copperfield ist, ob das einmal Siegfried und Roy waren oder ob das jetzt die jungen Nachkommenden sind. Tommy Ten und Amelie und so. Jeder hat da irgendetwas Eigenes, was ihn unverwechselbar macht und dann hat er auch Erfolg. Das Wichtigste ist das Unverwechselbare natürlich. Sie sehen, ich würd nie so herumrennen, das ist mein Markenzeichen. Immer irgend so eine Mütze auf und den Bart.

Udo Seelhofer:
Bei dem Unverwechselbaren trifft man sich ja eigentlich schon fast wieder bei den Freakshows, kann man sagen, bei den Ausstellern, oder? Die ja auch alle etwas Unverwechselbares hatten, das sie präsentiert haben.

Robert Kaldy-Karo:
Theoretisch, ja. Und ganz ehrlich gesagt: Ein Zauberkünstler ist nicht normal.

Udo Seelhofer:
Muss man da ein bisschen positiv verrückt sein, oder?

Robert Kaldy-Karo:
Ja, auf jeden Fall, weil ansonsten würde man sich das nicht antun.

Udo Seelhofer:
Dann sage ich danke für das Gespräch!

Sandra Knopp:
Wie eingangs erwähnt: Das Wiener Circus- und Clownmuseum öffnet ab September wieder seine Pforten. Dort können Sie unter anderem historische Erinnerungsstücke von Nikolai Kobelkoff betrachten. Der bekannte Prater-Unternehmer aus dem 19. Jahrhundert, der ohne Arme und Beine geboren wurde, malte in seinen Shows Bilder und stellte auch seine Schießkünste unter Beweis. Wir hoffen, wir haben eure Woche ein bisschen bunter gemacht. Wir freuen uns auf ein Wiederhören in zwei Wochen.