Kinderliteratur
Ein Feuer in der Nacht
Auszug aus der Dankesrede zur Verleihung des Hans Christian Andersen Award 2024 von Heinz Janisch.
28. Dezember 2024, 02:00
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SO |8. DEZ 2024 | 9:05
Heinz Janisch - Bücher sind ein Geschenk
Im Jahr 2002 erschien mein Bilderbuch The Fire bei Groundwood-Books in Toronto, mit Illustrationen von Fabricio Vanden Broeck, in dem ich ein altes Märchen aus Äthiopien neu erzähle. Wovon handelt das Märchen? Ein Mann hat lang schwer für seinen Herrn gearbeitet, er hat ihm viele Jahre lang gedient. Eines Tages geht er zu ihm und fragt ihn: „Was kann ich tun, um endlich frei zu sein?“ Sein Herr lacht höhnisch. „Du willst frei sein? Ich sage dir, was du tun kannst! Steig in dieser Nacht auf den hohen Berggipfel dort drüben. Wenn du es schaffst, dort oben im Eis und im Schnee - nackt und ohne Kleider - zu überleben, wenn du diese Nacht überstehst, dann wirst du morgen frei sein.“
Der Mann geht zu seinem besten Freund, um sich von ihm zu verabschieden. Wie soll er diese Nacht überleben? Als es dunkel wird, steigt der Mann mit schweren Schritten auf den Berg hinauf, immer höher, bis hinauf zum Gipfel, der mit Schnee und Eis bedeckt ist. Es ist bitterkalt. Sein Herr hat zwei Männer mitgeschickt, sie sollen darauf achten, dass der Mann sein Wort hält und nirgendwo Schutz sucht. Nackt und schutzlos steht der Mann auf dem Gipfel, die klirrende Kälte ist kaum zu ertragen.
Da sieht der Mann, dass auf dem gegenüberliegenden Berg ein Feuer entzündet wird. Sein bester Freund ist auf den Berg gestiegen, mit einem Rucksack voller Holz, und hat für ihn ein Feuer entzündet, ein Feuer in der Nacht.
Der Mann schaut auf dieses Feuer, das für ihn brennt und das ihn wärmt. Sein Freund sorgt dafür, dass dieses Feuer nicht ausgeht, und so überlebt der Mann die Nacht im Schnee und im Eis, mit Blick auf das Feuer, das für ihn entzündet wurde und die Dunkelheit erhellt. Am frühen Morgen steigt der Mann vom Berg. Er ist ein freier Mann. Gemeinsam mit seinem besten Freund feiert er seine Freiheit.
Mich berührt dieses Märchen. Ist es nicht unser Auftrag, Feuer zu machen für alle, die es in der Dunkelheit und in der Kälte brauchen? So wie mich diese alte Geschichte aus Äthiopien wärmt, so können wir - mit unseren Büchern, mit Worten und Bildern - andere wärmen, ihnen Licht und Trost und Zuversicht schenken.
Wir wissen um die Kraft von Geschichten und Bildern. Wir sind der Freund, der auf den Berg steigt und ein Feuer entzündet, das nicht erlöscht, ein Feuer, das die Nacht heller macht, ein Feuer, das wärmt.
Der 2013 verstorbene österreichische Schauspieler Walter Schmidinger, der in Österreich und Deutschland auf vielen renommierten Theaterbühnen gefeiert wurde, hat mir eine Geschichte aus seiner Kindheit erzählt, die mich nicht mehr loslässt. Sein Vater kehrte seelisch und körperlich verwundet aus dem Zweiten Weltkrieg zurück nach Hause. Nur mit Mühe konnte er sich und seine Familie ernähren. Eines Tages beschloss er, seiner Frau und seinem Sohn ein Geschenk zu machen. Er kaufte eine Tapete mit Seidenglanz und tapezierte damit die Wände der kleinen Wohnung. Wenn das Sonnenlicht auf die Wände fiel, dann war im ganzen Raum ein Schimmern zu sehen, ein Glanz, der alles kostbar erscheinen ließ.
Anderen einen Seidenglanz zu schenken, das kann viel verändern. Es muss nicht immer das große Feuer sein,es genügt auch ein wenig Glanz, ein geheimnisvolles Schimmern, als Erinnerung daran, dass das Leben bei allen Schwierigkeiten immer auch wunderbar sein kann. Jedes Gedicht, jede Geschichte, jedes Bild, jedes Buch kann so ein Schimmern sein, kann so einen Seidenglanz schenken, wie dunkel es ringsum auch sein mag.
Gestaltung
- Heinz Janisch